»Die Lage ist furchtbar«

Ein Gespräch mit sahar saba von der Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (Rawa)

Sahar Saba ist Sprecherin der Frauenorganisation Rawa in Islamabad und pendelt zwischen Afghanistan und Pakistan. Seit fast 30 Jahren kämpft die Rawa mit friedlichen Mitteln für die Rechte der afghanischen Frauen, wobei sie noch heute meist verdeckt agieren muss.

Wie sieht die Situation für Frauen in Afghanistan derzeit aus?

Ihre Situation kann nicht lösgelöst von der Gesamt­situation gesehen werden. Die allgemeine Lage wird immer schlechter, vor allem was die Sicherheit, die Drogenbekämpfung, die Armut, Probleme der Gesundheitsversorgung und viele andere Dinge angeht.

Unglücklicherweise hat sich in den fünf Jahren, seitdem die Truppen der internationalen Gemeinschaft, vor allem die der USA mit ihren großen Ansprüchen, die Situation der afghanischen Frauen zu verbessern, ins Land gekommen sind, nicht viel getan. Für die meisten Frauen hat sich in ihrem Leben nichts geändert. Nicht nur wir von der Rawa, sondern auch die Vereinten Nationen und viele Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass sich die Situation hier noch schneller verschlechtert als im Irak. Andere behaupten sogar, es entwickle sich mit Afghanistan ein zweiter Irak. Das trifft auch für Kabul zu, obwohl hier die Situation von der Situation im restlichen Afghanistan zu unterscheiden ist.

Und die Lage ist wirklich furchtbar. Afghanische Frauen werden immer noch unterjocht, sowohl von den Warlords als auch von den religiösen Fundamentalisten und der männlichen Dominanz in der Gesellschaft. Wir reden über die Mehrheit der Frauen in den ländlichen Gebieten, die keinen Zugang zu Bildung, Arbeitsplätzen, zu Einrichtungen der Gesundheitsversorgung oder zu Ärzten haben. Es stehen oft nicht einmal Ärzte zur Verfügung. Und wenn welche da sind, verhindern Sicherheitsprobleme den Arztbesuch. Diese Schwierigkeiten führen dazu, dass die Zahl der Selbstmorde jeden Tag wächst.

In den vergangenen Monaten wurde immer wieder berichtet, dass Schulen für Mädchen abgebrannt wurden. Sind das nur die Taliban, die solche Terrorakte verüben, oder begehen auch andere Gruppen solche Taten?

Wir weisen schon seit längerem darauf hin, dass die Taliban von Tag zu Tag stärker werden. Die Frage ist: Warum ist das so? Warum sind die Nato-Truppen, die Isaf und die Regierungstruppen mit ihrer modernen Ausrüstung nicht in der Lage, etwas gegen die Taliban zu unternehmen? Die Taliban scheinen direkt und indirekt Kontakte und Verbindungen zur Regierung und in das Parlament Afghanistans zu haben.

Dabei bekommen sie auch Unterstützung von einzelnen Kommandeuren oder Sicherheitsleuten in den ländlichen Gebieten, die dafür sorgen, dass die Taliban nahezu tun und lassen können, was sie wollen. Auch diese Leute und die Nordallianz terrorisieren die Bevölkerung.

Was ist falsch gelaufen nach dem Sturz des Tali­banregimes?

Der Fehler war, dass die Macht von einer terroristischen Vereinigung auf die nächste übertragen wurde. Die Fundamentalisten der Nordallianz, die Kriminellen, sind für das verantwortlich, was derzeit in Afghanistan passiert. Vielleicht wissen Sie, was die Nordallianz von 1992 bis 1996 getan hat, als sie an der Macht war. Das wiederholt sich jetzt in Teilen Afghanistans. Genau davor haben wir gewarnt. Ich verstehe nicht, wie man Terrorismus bekämpfen kann, indem man eine andere terroristische Bande wie die Nordallianz unterstützt.

Es gibt Berichte, dass die Isaf-Truppen nur noch sich selbst schützen.

Auf eine Art und Weise müssen sich die Truppen selbst schützen. Sogar in Kabul, wo mehr als 6 000 ihrer Soldaten in den verschiedenen Stadtteilen patrouillieren, gibt es jeden Tag Zwischenfälle, Entführungen, Übergriffe auf Frauen. Und die internationalen Truppen tun nichts. Und wenn sie etwas tun, dann hat das keine Folgen für die lokalen Führer mit ihren Privatarmeen.

Am Anfang waren alle glücklich darüber, dass die Isaf-Truppen da waren. Aber viele wünschen sich, dass sie aktiver werden. Die Ursachen werden nicht angegangen. So lange es Drogenkartelle und die Jihad-Mafia in der Regierung und außerhalb der Regierung gibt, wird sich nichts verändern.

Präsident Karzai, der vor der Wahl versprochen hatte, dass er Veränderungen bewirkt, hat an Popularität im afghanischen Volk verloren. Er hat kaum noch Autorität und Einfluss außerhalb von Kabul.

Was sollten die Truppen tun, damit sich die Situation jetzt verbessert?

Die Menschen, die momentan an der Macht sind, müssten ihrer Ämter enthoben werden, sowohl die Leute in der Regierung als auch die im Parlament in den meisten Provinzen des Landes. Die, die die Macht haben, werden korrupt. Die Terroristen, die Jihadisten, sorgen nur für sich selbst und ihre Familien. All diese Menschen müssen zur Verantwortung gezogen werden. Es müssen Personen in der Regierung sitzen, die ehrlich sind und die etwas für Afghanistan tun wollen. Aber so lange die Staaten ihre Afghanistan-Politik nicht ändern, wird sich nichts verbessern.

Sie hätten gerne mehr internationale Truppen in Afghanistan?

Ja, das hätten wir gerne. Die Isaf müsste aber die lokalen Armeen, die Privatarmeen, die keine Legitimation haben, entwaffnen.

Was tut die Rawa konkret?

Unsere Organisation arbeitet hauptsächlich auf zwei Gebieten: im sozialen und politischen Bereich. Unsere sozialen Aktivitäten nehmen ab, da es uns an Spendengeldern fehlt. Das liegt daran, dass die afghanische Wirklichkeit in den Medien nicht mehr wiedergegeben wird. Daher denken die Menschen in den Geberländern, dass sich die Lage verbessert habe und es nicht mehr so wichtig sei, den afghanischen Menschen zu helfen.

Trotz dieser Probleme arbeiten wir immer noch aktiv in Bildungsprojekten, in Gesundheitsprojekten und bemühen uns darum, dass Frauen ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Hauptsächlich sind wir in Afghanistan aktiv, aber auch in Flüchtlingscamps in Pakistan. Politisch ist es für uns am wichtigsten, die kriminellen Machenschaften, egal ob sie von der Regierung kommen oder nicht, aufzudecken und der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, wie es hier wirklich aussieht. Unsere Mitglieder versuchen, Informationen, Videos und Bilder zu bekommen, die zeigen, was wirklich passiert ist. Wir versuchen zudem, Frauen dazu zu bewegen, selbst politisch aktiv zu werden.

Wo sehen Sie noch Hoffnung für Ihr Land?

Schon in der Zeit des Talibanregimes und davor hatten wir verschiedene Probleme zu bewältigen. Und auch jetzt müssen wir versuchen, Widerstand zu leisten und die Situation zu verändern. Auf der einen Seite verlieren wir nie die Hoffnung, weil es das einzige ist, was man hat, wenn man in Afghanistan lebt. Auf der anderen Seite, wenn man die Hoffnung auf die internationale Gemeinschaft meint, die uns so viel versprochen hat, muss man sagen, dass keinerlei Hoffnung übrig geblieben ist.

interview: michael reckordt und stefan wirner