Kritik und Praxis

christina kaindl über die Abwicklung des kritischen Denkens an den Universitäten und die Anforderungen des modernen Kapitalismus an die Wissenschaft

Inzwischen ist es ein kleines, wohl gepflegtes Ritual geworden: Kaum veröffentlicht die OECD mal wieder eine Studie über die Bildung, gar eine international vergleichende, beginnen die Medien die nächste sorgenvolle Diskussion über den bedauernswerten Zustand, in dem sich die Bildung hierzulande befinde. »Wenn man berücksichtigt, dass künftig geburtenschwache Jahrgänge die Schule verlassen, wird Deutschland den steigenden Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften so nicht befriedigen können«, warnt Andreas Schleicher, ein Bildungsexperte der OECD.

Das Problem der aktuellen Reformen und Umstrukturierungen des Bildungswesens ist, dass das gesellschaftliche Wissen sich von den Anforderungen und Notwendigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise entfernt hat. »Der neoliberale Diskurs um eine Bildungskrise nimmt dies auf und liefert eine bestimmte Bearbeitungsweise dieses Problems«, schreibt der Politikwissenschaftler Mario Candeias.

In Deutschland wird der Prozess der »Neoliberalisierung« der Hochschulen allerdings seit geraumer Zeit dadurch verhindert, dass private Finanziers für die Hochschulen kaum zu finden und Studiengebühren noch nicht überall eingeführt sind. Solange es kein Konzept gibt, wie die Erweiterung der Bildung kostenneutral zu verwirklichen wäre, bleibt es bei gesellschaftlichen Aufrufen an die Studierenden, die sich angeblich nicht genügend um ihre »Employability« bemühten und das Gebot vom »lebenslanges Lernen« nicht beherzigten.

Dabei geht es sowohl um die Ausbildung des technischen Personals der neuen Produktionsweisen, als auch um das, was Karl Marx »general intellect« genannt hat, gewissermaßen den gesellschaftlich notwendigen durchschnittlichen Bildungsstand.

Die Auseinandersetzung um Bildung und Lernen hat mit drei zentralen gegenwärtigen Veränderungen der Produktionsweise zu tun. Zum einen geht es um die dauerhafte Bereitschaft zum Lernen. Im Konzept vom »lebenslangen Lernen« steckt die Vorstellung einer allgemeinen Einstellung zum Lernen, mit der sich neoliberale Bildungspolitik gegen die Vorstellung vom »Lernen auf Vorrat« wendet. Indem die Informationstechnologien das Fließband als entscheidendes Produktionsmittel abgelöst haben, müssen die gesellschaftlichen Organisationsformen von Wissen und Lernen an den schnellen Verfallsdaten der neuen Technologien ausgerichtet werden.

Zum zweiten lässt sich eine Umgestaltung des Bildungssystems nach der Maßgabe des verschlankten, »aktivierenden« Staats erkennen. Mit ihr wird die Produktion von Ungleichheit durch Bildung neu legitimiert und organisiert.

Die Anforderungen der Produktionsweise drängen drittens auch auf die Veränderung der konkreten Lernanforderungen, also Lehrpläne und Studienordnungen. »Methoden der Wissensaneignung statt konkreter Wissensbestände« stehen immer mehr im Mittelpunkt, um noch einmal Candeias zu zitieren. Vorstellungen, die gerade auf die kritische Funktion der Wissenschaft Wert legen und ihr die Aufgabe zuweisen, aus der Distanz zu analysieren, werden unter der Norm der unmittelbaren Verwertbarkeit verdrängt. Sie sind unnütz. Stattdessen werden die Inhalte, die gelernt werden, aus den veränderten Anforderungen der Praxis abgeleitet.

Damit scheint eine Forderung der 68er-Bewegung und ihrer Nachfolger aufgegriffen zu werden, die als erste eine mangelnde Praxisrelevanz des Studiums beklagten. Vielleicht war diese Kritik an der universitären Abschottung schon immer oberflächlich. Nur weil man nicht das Gefühl hatte, dass etwa die behavioristische Psychologie irgendetwas Relevantes für die Bewältigung der eigenen Probleme beizutragen hatte, musste dies längst nicht heißen, dass sie nicht anderswo, etwa in der Entwicklung von Manipulationstechniken oder Folter, von praktischer Relevanz sein konnte.

Die Frage nach der praktischen Bedeutung muss also differenziert werden nach technischer und auf Verwertung bezogener Relevanz einerseits und emanzipatorischer Relevanz andererseits, wie Klaus Holzkamp bereits im Jahr 1970 schrieb. Was als sich abschottende Wissenschaft im Elfenbeinturm erschien, wurde, vor allem in den Sozialwissenschaften, als Einverständnis mit dem Status quo kritisiert. Von dieser Kritik ausgehend entwickelten sich kritische Inhalte und alternative Studienmodelle. Doch derlei Versuche einer gegen-parteilichen Wissenschaft, einer bewussten emanzipatorischen Parteinahme, die nicht mehr den Erkenntnis- und Verwertungsgrenzen der bürgerlichen Gesellschaft unterstellt sein sollte, sind weitgehend aus den Universitäten verschwunden.

So konnte man in Berlin Mitte der neunziger Jahre beobachten, dass die Definition von Praxisrelevanz und Profilbildung keinesfalls ein Projektstudium und ein studentisch verwaltetes Tutorienmodell umfassen sollte, wie sie etwa am Psychologischen Institut der FU entwickelt worden waren. Die herrschenden Kriterien der Praxisrelevanz sollten nicht in Frage gestellt werden. So wurde innerhalb weniger Jahre zunächst noch administrativ von oben – im Rahmen der Senatspolitik –, und später bei den Kriterien leistungsbezogener Mittelvergabe und angesichts des Wunsches von Professorinnen und Professoren, endlich an einem »normalen» und »angesehenen« Institut zu arbeiten, alles Kritische abgewickelt. Die letzten Nachwirkungen sind derzeit am ehedem als links verschrienen Berliner Otto-Suhr-Institut zu betrachten.

Das Versprechen der »Praxisrelevanz« im Sinne ökonomischer Verwertbarkeit ist auch ein Versprechen an die Studierenden, dass sich der Einsatz von Zeit und Geld lohnt und in barer Münze zurückgezahlt wird. Damit wird die Kritik an der Praxisferne vieler Studiengänge aufgegriffen und marktgerecht artikuliert. Das verschafft den Bachelor-Programmen an Universitäten und Fachhochschulen ihre Akzeptanz.

Die relative Freiheit der Bildungsmöglichkeiten hatte den Preis, die erworbenen Bildungstitel danach gegebenenfalls nicht auf dem Markt anwenden zu können. Das bedeutete für die Studierenden, dass die Beschäftigung mit dem, was gesellschaftlich nicht vorgesehen war, ein persönliches Risiko blieb. Die Verzahnung der Studieninhalte mit den Anforderungen gesellschaftlicher Verwertungsinteressen entlastet von diesem persönlichen Risiko.

Holzkamp formulierte seine Ansprüche an die Wissenschaft so: »ein Gegen-den-Strom-Schwimmen, dabei vor allem auch gegen den Strom der eigenen Vorurteile und (…) gegen die eigene Tendenz zum Sich-Korrumpieren-Lassen und Klein-Beigeben gegenüber den herrschenden Kräften«. Die Umstrukturierungsmaßnahmen der Hochschulreform nehmen kritischen Ideen nicht nur Stellen und Gelder, sondern sie nehmen den Studierenden auch die Möglichkeit, sich auf solch eine existenzielle Verunsicherung des prinzipiellen Denkens gegen den Strom und gegen die eigene Korrumpierbarkeit einzulassen.

Wenn der Maßstab bei der Hochschulevaluation und -entwicklung nur Effizienz im Sinne ökonomischer und gesellschaftskonformer Brauchbarkeit ist, dann wird Kritik zum Luxus. Mit Instrumenten der leistungsbezogenen Mittelvergabe, Studiengebühren und weiteren Maßnahmen wird suggeriert, dass sich Universitäten und Studierende diesen Luxus nicht mehr leisten können.