Kunst des Chamäleons

Der Fluxuskünstler, Zeichner, Denker und Spieler Tomas Schmit ist tot. Ein Nachruf von stefan ripplinger

Eines Tages dachte Nam June Paik über sein Leben nach: »Ich bin heute 65 geworden. Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich mich nicht von diesem Elektromüll hätte verderben lassen, denn das Spiel mit der Hardware führte mich in den Kompromiss und nicht zum Blick in mich selbst (look into myself). Tomas Schmit und Takehisa Kosugi sind die beiden Vorbilder (model persons), die sicherlich mein ideales Ich vorstellen. Ich wünschte, ich wäre Tomas Schmit statt Nam June Paik geworden, aber ich besaß nicht die Aufrichtigkeit, T.S. zu werden.«

Weder kokett noch ironisch ist es, dass einer der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts so über einen Kollegen spricht, der zwar Protagonist von Fluxus war, doch lange nicht so bekannt wie andere Künstler der Szene, Allan Kaprow etwa oder Yoko Ono, von Wolf Vostell oder Joseph Beuys zu schweigen. Während die Produktion Paiks industrielle Dimensionen annahm, eine Heerschar von Assistenten und Vermittlern erforderte und dem Künstler mehr und mehr entglitt, blieb Schmit immer bei sich. Er war skeptisch genug, sich nur das vorzunehmen, was er mit eigenen Augen sehen, mit den eigenen Händen begreifen und mit seinem eigenen Kopf durchdenken konnte. Schon seine Happenings der Fluxus-Zeit stechen hervor durch ihre Einfachheit. Bei seinem »zyklus für wassereimer (oder flaschen)« (1962) füllt er so lange Wasser von einem Behälter in den andern um, bis es vollständig verspritzt oder verdunstet ist.

Was als ein beckettsches Spiel erscheinen kann, ist, wie fast alles bei Schmit, ein ebenso kühles wie komisches Experiment, das auf eigene Faust unternommen wird. Und so meint der »look into himself«, den Paik bei Schmit bewundert hat, keineswegs eine Innenschau, sondern eine Konzentration auf das Gegebene und Verfügbare. Die Maxime, sich auf niemanden zu verlassen als auf sich selbst, und nicht einmal auf sich selbst ohne Vorbehalte, verband Schmit mit George Maciunas, dem Initiator von Fluxus, begnadeten Bastler und Projektemacher.

Maciunas gehörte zu denen, die alle Prätentionen der Kunst abtaten, auch auf die Gefahr hin, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Unter allen, die ihm folgten, war Schmit der Radikalste. Und strenger war er bald als der Meister, dessen Design er zu aufgeblasen fand: »nach meinen vorstellungen von f(luxus) wäre eine f.-typografie eine, sofern das auch nur irgend möglich ist, stil- und ambitionsfreie!, eine klartext-typografie, also: lesbare, klare, einheitliche buchstaben von links nach rechts einer nach dem anderen und eine zeile und dann die nächste, basta.«

In einem Brief an Emmett Williams versuchte er sich 1993 an die Monate zu erinnern, als er, gerade 20, nach Wiesbaden aufbrach, um sich der destruktivsten und lustigsten Künstlergruppe der Zeit anzuschließen: »ich erinnere nur noch, daß ich direkt nach dem karneval ´63 losfuhr, daß ich betrunken war, als ich mir meine haare schnitt, um für die fahrt am nächsten tage gut auszusehen, daß meine mutter mir sagte, so verläßt du nicht die stadt, daß ich früh morgens, bevor ich nach wiesbaden fuhr, zu einem friseur ging, daß george mich in seiner wunderschönen, alten citroën limousine vom bahnhof abholte, daß es diese riesige elektrische ibm im haus gab, die mir völlig neu war, mit buchstaben ohne serifen und unterschiedlichen abständen für die buchstaben (…)«

Mit einer solchen Schreibmaschine und mit der von Maciunas abgeschauten Akkuratesse schrieb Schmit später, als Fluxus längst passé war, seine Bücher, »von phall zu phall« oder »das gute dünken«, die Kataloge – wahre catalogues raisonnés, die die Werke mit Überlegungen, Anekdoten und Abschweifungen anreichern – und seinen »ersten entwurf (einer zentralen ästhetik)«. Die Bücher bieten geistreiche Zeichnungen, Modelle und Reflexionen, die sich an Biologie und Mathematik orientieren, aber niemals etwas ungeprüft weitergeben. Ob es um »der sprache vermutliche entsteh und wicklung« geht, um die Frage »wie lernt etwas echsiges die zweibeinigkeit?« oder darum, wie das Chamäleon seine Farbe ändert, all das durchdenkt er, bis er eine ihn befriedigende Lösung gefunden hat, mag sie andern auch aberwitzig oder trivial vorkommen.

Es überrascht nicht, dass dieses beharrlich aufs Handgreifliche gerichtete Denken und Deuten etwas Eigenwilliges und Urkomisches besitzt, aber vielleicht doch, dass es so federleicht, fast luftig daherkommt. Andere mögen sich in Konzepten und Ideen verlieren und bleiben immer auf ihrem dicken Hintern sitzen. Hier untersucht einer die Molche und berührt nebenbei die letzten metaphysischen Fragen. Denn ist von einem Chamäleon nicht mehr über Kunst und Ästhetik zu lernen als von einem Hochschullehrer? – Ästhetik wohlgemerkt im alten Sinn verstanden, als Lehre von der Wahrnehmung. Tomas Schmit trieb seine ganz eigene Bionik.

Den wilden Fluxustagen hat er nicht nachgetrauert. Als ich ihn im letzten Jahr bei der Eröffnung der Kölner Retrospektive seines Freundes George Brecht traf, zeigte er sich angeödet davon, dass einige seiner Weggefährten die alten Pieces noch einmal aufführten. Solche Sentimentalität war ihm fremd. Er schätzte das offene, auch raue Wort, den guten Scherz, das intelligente Spiel. Unter den Künstlern wird schwerlich einer zu finden sein, der nüchterner über die Kunst geurteilt hat; mit Williams pflegte er zu sagen, er sei ein Künstler, kein Kunstliebhaber.

Was er liebte, wollte er nicht zu einem Schnörkel gekrümmt sehen, denn »streben wir eine welt an, in der zum pfingst-konzert im zoo morton feldman erklingt?!« Das entfernte ihn von einem Betrieb, der es für sein vornehmstes Ziel hält, Kunst in den Alltag, anstatt den Alltag in die Kunst zu bringen. Tomas Schmit ist am 4. Oktober in Berlin gestorben.