Abwärts und schon vergessen

Die Unterschicht wächst mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. von felix klopotek

Mit der Einführung der Hartz-Gesetze, insbesondere der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwerbsfähige, hat die Sozialdemokratie, so scheint es, eine Bringschuld der Arbeiterbewegung eingelöst: die Abschaffung des Lumpenproletariats. Die Arbeiterbewegung grenzte sich seit jeher von der Unterschicht ab, und das gar nicht mal mit schlechten Argumenten. In die Fabrik zu gehen und sich der straffen Disziplin der Arbeitsorganisation und der Klassensolidarität zu unterwerfen, sei allemal besser, so die alten Sozialisten, als zwischen dem Status eines Empfängers staatlich-kirchlicher Almosen und dem Terror persönlicher Abhängigkeit, wie man ihn zum Beispiel als Prostituierte oder als Mitglied einer Bande von Kleinkriminellen zu ertragen hat, hin- und hergeworfen zu sein.

Die Kehrseite dieser Abgrenzung war, dass man die Arbeitsorganisation und die Fabrikdisziplin als potenziell sozialistisch verklärte, den Stolz auf fleißige Facharbeiter ausbildete und die Klassensolidarität in die Nibelungentreue zu Partei und Gewerkschaft ummünzte. Gut bekommen ist das der Arbeiterbewegung in den letzten 100 Jahren nicht. Dass ausgerechnet die Sozialdemokratie, die vollendete Verkörperung der offiziellen Arbeiterbewegung, dank Hartz IV die Spaltung zwischen industrieller Reservearmee (den Arbeitslosen) und Lumpenproletariat (den Sozialhilfeempfängern) partiell aufhebt und letztgenannte mit aller staatlichen Macht in den Stand zumindest potenzieller Inwertsetzung bringen will, kann man als perfide List der Vernunft ansehen.

Denn die Unterschicht existiert nach wie vor, sie wächst, und all die Gesetze und Maßnahmen der Schröder-Jahre, die ein »Fördern und Fordern« versprachen, haben dieses Wachstum keineswegs gestoppt, sondern darüber hinaus Verunsicherung, Angst, Mutlosigkeit und Zynismus gesteigert. Die acht Prozent der Bevölkerung, welche die Studie »Gesellschaft im Reformprozess« der Friedrich-Ebert-Stiftung als »abgehängtes Prekariat« bezeichnet, haben, mag man den Resultaten der Studie folgen, einen mentalen Zusammenbruch hinter sich: Jeglicher Lebenssinn ist ihnen abhanden gekommen, sie haben sich aufgegeben.

Tatsächlich dienen die Gesetze und Maßnahmen nicht der Integration der Unterschicht in den ersten Arbeitsmarkt, sondern dem Ausbau des dritten, des staatlich beaufsichtigten Arbeitsmarktes, in dem per se keine tarifliche Entlohnung gilt. Wenn es denen über uns schon schlechter geht (die Studie bezeichnet sie als die »bedrohte Arbeitnehmermitte«), dann kann das nur bedeuten, dass es uns niemals besser gehen wird, mögen sich viele Leute ganz unten ausrechnen.

Liest man die Kommentare in den großen Zeitungen, dann erfährt man, dass das Problem nicht »die Unterschicht« ist, deren Existenz man einfach hinnimmt, sondern ihre (vermeintliche? tatsächliche?) Selbstaufgabe. Die wird mit großem Entsetzen registriert, ergeben sich doch daraus neue, härtere Anforderungen an die Politik. Welche genau, darüber wird gestritten.

Zwei Ideen, die sich dabei herauskristallisieren, lassen sich auf vielfältige und kreative Weise miteinander kombinieren: einerseits einen Bevölkerungsteil zu definieren, der in erster Linie dazu da ist, staatlich-polizeilich betreut zu werden; andererseits sich zu bemühen, die alt-bundesrepublikanische Regulierung der Arbeitsmärkte – über Tarifautonomie, Flächentarifverträge, Koppelung der Löhne an die Produktivitätssteigerung etc. – noch schneller, noch weiter einzuschränken. Das angestrebte Ziel sind komplett flexibilisierte Arbeitsmärkte. Schon jetzt werden immer häufiger Löhne verhandelt, die nur noch mit staatlicher Subventionierung zum Überleben und Weiterwursteln reichen. Die Grenze zwischen den »Abgehängten« und den »Bedrohten« wird weiter aufgeweicht, es sollen ja »dynamische Märkte« sein.

Flexibilisierung heißt nicht zuletzt, »die unheilvolle Verkettung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu unterbrechen«, wie es die Zeit jüngst formulierte. Dahinter steckt der Gedanke, dass so genannte Geringqualifizierte selbstverständlich miese Jobs machen müssen, aber die Möglichkeit bekommen sollen, sich weiterzubilden, um dadurch an bessere Arbeit zu kommen.

Im realen Kapitalismus gibt es allerdings keinen Automatismus, der lautet: »Bessere Qualifikation führt zu besserer Stelle.« Wohl aber hört man die Warnung an die Adresse der Besserqualifizierten, sich nicht auf ihre einmal erworbenen Abschlüsse zu verlassen, sondern in einem ständigen Programm der Weiter- und Fortbildung fit zu halten für den Konkurrenzkampf unter den Lohnabhängigen. Die staatliche wie die journalistische Debatte um die Unterschicht ist bei der Instrumentalisierung dieser Leute für die fortschreitende Prekarisierung aller Arbeits- und Lebensverhältnisse gelandet.

Viele Linke sprechen in jüngster Zeit vom Prekariat und versuchen so, all die unsicheren wie ungesicherten, hyperflexibilisierten wie diskontinuierlichen Arbeitsverhältnisse auf einen Nenner zu bringen – in Abgrenzung zu den von jenen Linken häufig idealisierten, real aber in der Regel nur auf dem Papier vergilbter Tarifverträge bestehenden Normalarbeitsverhältnissen. Viel Kritik hat es dafür gegeben, etwa die Projektemacherei eines Diplomsoziologen zwischen Journalismus und Forschungsaufträgen, die von den Eltern subventionierte Nischenökonomie eines Performancekünstlers und die Arbeit geduldeter Migrantinnen in Putzkolonnen unter ein und denselben Begriff zu subsumieren.

Aber der Mainstream ist hellhörig, denn, wie bereits erwähnt, die Unterschicht wird in der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung als »abgehängtes Prekariat« bezeichnet. Wenn es ein »abgehängtes« gibt, muss es, so der Umkehrschluss, ein Prekariat geben, das mittendrin ist, das vielleicht sogar oben schwimmt. Tatsächlich beschreibt die Studie auch ein Segment der »Leistungsindividualisten«.

Man kann »Prekariat« mit guten Gründen als ideologischen Kampfbegriff analysieren, der die Mechanismen der kapitalistischen Reichtumsproduktion mehr verschleiert als enthüllt. Dem Staat ist das allerdings egal, denn er handhabt den Begriff auf seine Weise: als Maßstab für den Umgang mit einem wachsenden Teil der lohnabhängigen Bevölkerung.

Das Ziel einer zukünftigen staatlichen Sozialpolitik dürfte es folglich sein, den Abstand zwischen dem »abgehängten« und dem, sagen wir einfach: elitären Prekariat zu verringern. »Intelligente Armutspolitik« heißt das im Jargon. Sie beginnt mit der Forderung nach der Einführung eines »Bildungsexistenzminimums«, um einen zynischen Ausdruck des Soziologen Wolf Lepenies zu benutzen, und sie endet stets mit dem »Aufbrechen geschlossener Arbeitsmärkte«.

Diese Politik demonstriert augenfällig, dass die Prekarisierung nicht von außen importiert wird (etwa durch die von Lafontaine misstrauisch beäugten »Fremdarbeiter«), sondern der Dynamik des zeitgenössischen Kapitalismus selbst entspringt. Die Spaltung zwischen Lumpenproletariat und stolzer Arbeiterklasse wird mehr und mehr aufgehoben. Und gemeinsam geht es abwärts.