Die Vermisste

Wer regiert hier eigentlich?

Es war eine bleierne Zeit der Stagnation. Nach dem Tod von Juri Andropow wurde Konstantin Tschernenko im Jahr 1984 Staatsoberhaupt der Sowjetunion. Aber man hörte nichts von ihm. Selten nur trat er öffentlich auf und sprach zum Volk. Und das, obwohl sein Land vor großen Problemen stand und einen wirtschaftlichen Niedergang erlitt. »Who is in charge?« fragte das Magazin Newsweek damals beunruhigt.

Eine ähnliche Sorge treibt heute manche Zeitgenossen in Deutschland um. »Wo war Merkel?« wollte Die Welt in der vorigen Woche wissen. Die Kanzlerin wurde vermisst, und zwar auf der feierlichen Eröffnung des Bode-Museums in Berlin. Es sei »schwer zu verstehen, dass Angela Merkel diesen wahrhaftigen Jubeltag der Bundeskulturpolitik nicht auch zu dem ihren gemacht« habe, schrieb das konservative Blatt.

Nicht nur bei solchen PR-Shows glänzt die Kanzlerin derzeit durch Abwesenheit. Egal was in den vergangenen Woche debattiert wurde, die Gesundheitsreform, die Unterschichten oder die Angriffe der Ministerpräsidenten auf die Große Koalition, jedes Mal fragten sich die Leute: Kommt Angie noch? Ist sie im Urlaub? Oder ist sie bereits nach elf Monaten amtsmüde?

Wenn die Menschen etwas von ihr zu hören bekommen, dann meist durch so glamouröse Schlagzeilen wie: »Merkel will Post-Monopole in der EU 2009 schleifen« oder »Merkel sichert neuem UN-Generalsekretär Unterstützung zu«. In ihrer Neujahrsansprache hatte die Kanzlerin noch gefordert: »Überraschen wir uns damit, was möglich ist! Fangen wir einfach an – ab morgen früh!« Aber ihr Motto hatte sie offenbar schon am 1. Januar wieder vergessen. Vielleicht ist sie auch zu sehr mit ihrem Video-Podcast beschäftigt, in dem sie sich einmal in der Woche zu einem bestimmten Thema äußert. Darin ging es zuletzt um die Eröffnung des Bode-Museums – bei der sie dann fehlte.

Mancherorts, wie in der Passauer Neuen Presse, fragt man sich mittlerweile: »Kann Angela Merkel eigentlich regieren?« Die Financial Times Deutschland meint: »Es hat sich herausgestellt, dass Angela Merkel doch nur ein Mensch ist und nicht Maggie Thatcher. Schon verliert Deutschland wieder jedes Ziel und jede Richtung.« Deutschland ohne Ziel und Richtung – wenn das mal gut geht!

Weicht das ausufernde Lob, das Merkel noch vor einigen Monaten von den meisten Kommentatoren gespendet wurde, der üblichen Nörgelei? Ist es wirklich schon so weit, dass Merkel an einem neuen Image basteln muss, wie der Spiegel schreibt? »Weicher und persönlicher im Auftritt« wolle sie demnächst wirken: »Die neue Merkel hat die Weltkarte in der Hand, nicht die Arzneimittelverordnung.« Damit Deutschland die Richtung wieder findet?

Vielleicht verhält sich aber auch alles ganz anders. Womöglich ändert sich die Politik gerade grundlegend und wir gehen über in eine poststrukturalistische Phase. Vielleicht werden wir von einem »Simulacrum« (Jean Baudrillard) regiert, und Merkel ist längst »fragmentiert« und »dekonstruiert« (Jacques Derrida). Vielleicht ist sie – im Sinne Jacques Lacans – nur eine symbolische Kanzlerin.

Oder endet die Geschichte so wie in der Sowjetunion? Tschernenkos trostlose Amtszeit währte nur 13 Monate. Anschließend kam ein gewisser Michail Gorbatschow an die Macht, zerstörte die Sowjetunion, den ganzen Ostblock und den Kommunismus mit dazu. Freie Welt, pass auf!

stefan wirner