Einfach mal Dampf ablassen

Über 200 000 Menschen demonstrierten am vergangenen Samstag in Deutschland gegen Sozialabbau. Der DGB hatte geladen. Bei den Protesten in Berlin haben sich oliver schott, nicole tomasek (text) und david badde (fotos) umgesehen

Die Merkel ist doch für den …« – »Arsch!«, ergänzen einige aus der Menge johlend die Vorlage des Redners auf dem Lautsprecherwagen. Seine unvermeidliche Replik: »Das habt jetzt ihr gesagt, nicht ich!« Zuvor gab der Redner den Demonstrierenden den Hinweis, doch mal nach links zu schauen, als der Demons­trationszug das Alte Palais in der Straße Unter den Linden passierte. Dort prangt an der Fassade ein riesiges Werbeplakat eines Miederwarenherstellers, das eine Reihe von nur mit Strapsen und Perücken bekleideten Frauen zeigt, die der Welt ihre makellosen, digital perfektionierten Hinterteile präsentieren. Die Frustration muss groß sein, wenn man selbst beim Anblick aggressiver Hochglanzerotik als erstes an Angela Merkel und die unsoziale Politik der großen Koalition denkt. Auch sonst kanalisiert sich die Wut über den Sozialabbau zuweilen in höchst absonderlichen Beschwerden. »Betriebswirtschafter ohne soziales Gewissen zerstören die Gesellschaft«, klagt ein Demonstrant auf seinem Plakat. »Das System wird einem Arsch immer ähnlicher«, steht auf der anderen Seite. Auf die Frage, ob dabei die Zweiteilung der Gesellschaft gemeint sei, entgegnet er, beim Arsch-Motiv zähle einfach nur die negative Konnotation. Die Leute sind frustriert, aber Sinn für schlechten Humor haben sie noch.

Die Demonstration war Teil eines Aktionstags des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) unter dem Motto »Das geht besser! Aber nicht von allein«, der am vergangenen Samstag bundesweit in mehreren Städten stattfand. Gefordert wurden unter anderem eine solidarische Gesundheitssicherung, ein Verzicht auf die Anhebung des Renteneintrittsalters, die Einführung von Mindestlöhnen und einer Reichensteuer und ein Sofortprogramm für Ausbildungsplätze. Laut Veranstalter gingen insgesamt 220 000 Menschen auf die Straße; in Berlin sollen es 80 000 gewesen sein. Weitere Demonstrationen mit weniger Teilnehmern fanden in Dortmund, Frankfurt am Main, Stuttgart und München statt.

Einigen Gruppen aus dem linken Gewerkschaftsspektrum und den sozialen Bewegungen war das DGB-Motto dann aber doch zu zahm. Als »Bündnis 3. Juni« riefen sie daher lieber unter dem Slogan »Das geht nur ganz anders! Soziale Gerechtigkeit und gleiche Rechte für alle durchsetzen: hier und überall!« zur Demonstration auf.

»Das DGB-Motto kann man vergessen, aber es ist wichtig, hier gemeinsam zu demonstrieren«, meint auch ein Plakatträger der Linkspartei. Neben ihm hält sein Freund ein Wasg-Plakat. »Er ist eigentlich auch von der PDS, wir wechseln uns ab mit dem Tragen. Wir wollen eigentlich so einen kleinen gemeinsamen Block«, erklärt er weiter. Der renitente Berliner Landesverband der Wasg, der bei den Wahlen trotz des Widerstandes der fusionswilligen Bundespartei gegen die Linkspartei antrat, sieht das wohl anders. Mit eigenen Plakaten, die nicht wie die der Bundes-Wasg in Rot, sondern in revolutionärem Orange gehalten sind, marschiert er ganz am Ende des Demonstrationszuges. »Es geht auch anders: 100 Prozent sozial«, ist auf dem Fronttransparent der Wasg-Berlin zu lesen.

Ein Mitglied der IG Metall Hamburg, das mit dem DGB-Motto grundsätzlich einverstanden ist, wünscht sich dennoch etwas mehr Militanz: »Wenn’s nach mir geht: Peitsche raus!«, meint der Mittfünfziger. Militant klingt auch der Spruch auf dem Transparent der IG-Metall-Senioren Hamburg: »Kein Geld für Zahnersatz, aber bewaffnet bis an die Zähne«. Bei der Gruppe handelt es sich jedoch nicht um zahnlose Geronto-Guerilleros, und selbstverständlich geht es ihnen auch nicht um die Bewaffnung der Arbeiterklasse. »Seit die Mauer gefallen ist, beteiligt sich Deutschland an Kriegen und gibt Milliarden von Euro für Eurofighter aus, aber Zahnersatz müssen wir selber bezahlen«, erläutert einer der Senioren. Auch die IG Metall Vertrauensgruppe Hamburg hat der neue deutsche Patriotismus offenbar noch nicht erfasst. »Immer wenn Du Deutschland bist, geht es in den Krieg«, steht auf ihrem Transparent. Laut einem der Metaller dient die Demo dazu, »Dampf abzulassen«. Außerdem fordert er einen einwöchigen Generalstreik wie in Frankreich, um die Regierung unter Druck zu setzen. »Aber das lässt sich bei der Gewerkschaft nicht durchsetzen«, meint er resigniert. »Hier ist das nicht möglich, weil der Deutsche zu allem immer nur mit dem Kopf nickt.«

Drei alte Herren von der Kommunistischen Plattform der Linkspartei unterstützen diese Forderung. Sie sind mit dem Bus aus Dresden angereist. »Es muss weitergehen bis zum Generalstreik, so wie Oskar Lafontaine es vorgeschlagen hat«, meint einer von ihnen. Generell finden sie das Motto des DGB gut, erwarten aber noch mehr Kampfgeist. Die Rückkehr des Kommunismus werden sie wohl nicht mehr erleben, doch die Hoffnung haben sie noch nicht aufgegeben: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will! Das ist von Thälmann«, meint der Genosse. Das stimmt zwar nicht ganz, das Zitat stammt von Georg Herwegh, aber auch davon abgesehen, ist es nicht ganz so einfach mit dem Streiken.

Das mussten zuletzt die Beschäftigten der Bosch-Siemens-Haushaltsge­räte (BSH) erfahren. (Jungle World Nr. 41/2006) Der IG Metall-Vorstand schloss am Donnerstag der vergangenen Woche ein Abkommen mit der Konzernleitung, das die Entlassung von 216 Arbeitern vorsieht. Damit war der am 25. September aufgenommene Streik für ihn beendet. Obwohl die Mehrheit der Belegschaft bei der Urabstimmung gegen das Abkommen und damit für eine Fortführung des Ausstands stimmte, konnte sich die Auffassung des Vorstands mit 32 Prozent der Stimmen durchsetzen. Denn für einen Streik­abbruch genügt bereits eine Zustimmung von 25 Prozent. Nun erscheint es fraglich, ob der Streik illegal und ohne Unterstützung der Gewerkschaft wirklich weitergeht, wie es viele enttäuschte Beschäftigte und Betriebsräte fordern.

Einige der BSH-Kollegen sind auch auf der DGB-Demonstration anwesend, verhalten sich jedoch unauffällig. Nur Aktivisten der »Montagsdemonstration Berlin« verteilen Broschüren, in denen sie Solidarität mit den Streikwilligen der BSH bekunden. Die Berliner Montagsdemonstranten sorgen auch mit einer eigenen Kapelle für die musikalische Bereicherung der Proteste. Zusammen singen und spielen sie Lieder mit Zeilen wie »Ich will Sozialismus echt« und »Neue Politiker braucht das Land. Nehmt die Zukunft in die eigene Hand.« Die Paradoxie, die in der Zusammenstellung der beiden letzten Sätze liegt, scheint nicht weiter aufzufallen.

In der Hand halten die Demonstranten in erster Linie viele Spruchbänder und Schilder. Neben den standardisierten Pappen der verschiedenen Gewerkschaftsgruppen, Parteien und sonstigen zahlreich anwesenden Organisationen gibt es auch Selbstgedichtetes und allerlei Kurioses zu lesen. »Mitbürger demonstriert! Demonstration als Wählerprotest!« mahnt das Schild einer Frau; »Widerstand gegen die weltweite Diktatur des neoliberalen Faschismus genannt Globalisierung«, das einer anderen, die außerdem ein Schild der Wasg trägt. Auskünfte zu ihrem kreativen Werk will sie nicht geben: »Keine Interviews!« Während die meisten nur die ungerechte Verteilung des Reichtums kritisieren und nichts gegen mehr Geld einzuwenden hätten, will ein Demonstrant das Übel an der vermeintlichen Wurzel packen: »Solange es Geld gibt, wird es nicht genug für alle geben«, lautet sein Wahlspruch. »Geschichte muss man tun oder sie wird gemacht«, steht auf einer Pappe, die an einem Fahrrad befestigt ist. Vielleicht handelt es sich aber auch um ein raffiniertes Stück Aktionskunst, das die Bildungsmisere anprangern will.

Doch hinter den manchmal skurrilen Slogans stecken durchaus begründete Ängste. Sozialer Abstieg und neue Armut sind allgegenwärtige Themen. »6,5 Millionen. Die Unterschicht sind wir«, bekennen sich einige jüngere Leute. »Sorge und Elend liegen im Har(t)z«, baumelt als eines von vielen Statements zu den Auswirkungen von Hartz IV vor der Brust eines älteren Mannes. Die Sorge um die individuelle Existenz führen aber kaum zu einer ernsthaften Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Häufig geht es nur gegen »die da oben«, die »Bonzen«, die »Reichen« und vor allem die »Manager«. »Die Managergehälter sollte man einfrieren«, anders gehe es nicht »wenn wir alle an einem Strick ziehen sollen«, ereifert sich eine 47jährige ALG II-Empfängerin, die mit einer Montagsdemonstrationsgruppe aus Eberswalde angereist ist. Von der Regierung verlangt sie, dass mehr Jobs geschaffen werden, von denen man auch ohne zusätzliches ALG II leben kann. Eine weitere Ausweitung der Ein-Euro-Jobs lehnt sie ab. Sie selbst habe nur 311 Euro im Monat zum Leben. Überhaupt seien Frauen von den Hartz-IV-Gesetzen stärker betroffen, insbesondere, wenn sie in so genannten Bedarfsgemeinschaften lebten. »Ein Schuh, eine halbe Stulle, und das ­Ko­telett wird auch geteilt, die Frau kriegt die Knochen und der Mann das Fleisch, so sieht das aus«, klagt sie. »Wer vorher gut gelebt hat, hat es schwerer mit ALG II. So ein Asozialer sorgt sich nur um seine Pulle Schnaps, der kann vielleicht gut davon leben.« Dass nicht mehr Menschen zur Demonstration gekommen sind, kann sie nicht verstehen. »Es sind nicht genug Menschen da. Beim Papst sind sich die Leute auf die Füße getreten, aber hier geht es doch um die Menschen«, beschwert sie sich über das mangelnde Interesse am Protest.

Damit steht sie nicht allein. Einer anderen Frau zufolge, sollten die Leute nicht immer nur rufen: »Der DGB soll machen«, denn: »Der DGB, das sind wir!« Sie schwenkt zwar eine DGB-Fahne, verlangt auf ihrem selbst gemalten Schild aber zehn statt 7,50 Euro Mindestlohn. »Die Forderung vom DGB geht einfach nicht weit genug.« Überhaupt sind den meisten 7,50 Euro entschieden zu wenig. Die Linkspartei im Bundestag überbietet den Mindestlohnvorschlag des DGB um ganze 50 Cent: »Zeit für Taten: 8 Euro Mindestlohn! Gesetzlich garantiert!« Das »Aktionsbündnis Sozialproteste« wäre dagegen wie die Mehrheit der Demonstrierenden erst ab zehn Euro Stundenlohn einigermaßen zufrieden zu stellen.

Auch die Grauen Panter, die bei den Berliner Wahlen mit 3,8 Prozent einen Achtungserfolg erzielten, sind mit einer Gruppe vor Ort, um gegen die Gesundheitsreform, Hartz IV und die Mehrwertsteuererhöhung zu protestieren, da »alles gegen die Armen geht«. Sie wünschen sich eine humane Politik. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Hier wird sie mit Füßen getreten«, entrüstet sich eine Seniorin. Die Demonstration sieht sie als die einzige Möglichkeit, etwas zu bewegen. Über die Parteien meint sie: »Für die sind die Wähler doch nur Stimmvieh.« Bei den Grauen Pantern sei dies natürlich anders.

Eine wesentlich avanciertere Analyse der deutschen Parteienlandschaft legt die trotzkistische Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands vor: »SPD, Wasg und PDS sind die Führung der Arbeiterklasse«, verrät eine Spartakistin. Doch missbrauchten diese Parteien ihre Macht, um »bürgerliche Politik in das Proletariat« zu tragen. Daher nutzen die Spartakisten die günstige Gelegenheit der Großdemonstration, dem Klassenbewusstsein auf die Sprünge zu helfen. »Wir sind für die proletarische Weltrevolution, um alle Probleme zu lösen, wie z.B. die Massenarbeitslosigkeit«, lauten ihre großen Pläne. Ihnen geht es nicht nur um das Wohl des deutschen Proletariats. Neben dem palästinensischen Volk gilt die besondere Solidarität der Spartakisten den bedrängten Genossen im »deformierten Arbeiterstaat« Nordkorea, denen der internationale Imperialismus ihr Recht auf atomare Bewaffnung verweigern will.

Wieder zurück in die Realität bringt einen die Abschlusskundgebung des Berliner Aktionstags vor dem Brandenburger Tor. Bei sonnigem Herbstwetter verfolgen die Demonstranten inmitten von Bratwurst- und Propagandaständen die Protestreden. Den Höhepunkt des Tages stellt die Rede des Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske dar. Der Mann mit dem Schnauzbart kann unkämpferische Forderungen so kämpferisch vorbringen wie sonst kaum jemand. Er beklagt die Zumutungen vor allem für Arbeitslose und Rentner und stellt fest, dass die sozialen Einschnitte der Vergangenheit nicht den erwarteten wirtschaftlichen Nutzen gebracht hätten. Er wiederholt die bekannten Forderungen wie Rücknahme der Mehrwertsteuererhöhung und Einführung eines Mindestlohnes, denn, so Bsirkse: »Arbeit darf nicht entwürdigen und nicht arm machen.« Der Gewerkschaftsboss beruft sich dabei auf die positiven Erfahrungen mit Mindestlöhnen in anderen Ländern. Den Druck auf die Löhne führt er außerdem auf »Hartz IV, osteuropäische Billiglöhne und die Amerikanisierung der Arbeitsbeziehungen« zurück.

Neben anderen prominenten Rednern und Rednerinnen wie Annelie Buntenbach vom Bundesvorstand des DGB, kann auch Antje Steinke von der Erwerbsloseninitiative »Dau wat e.V.« in Stralsund gelauscht werden. Sie schildert das traurige Schicksal der so­zial ausgegrenzten Hartz-IV-Familie. Die Hartz-IV-Kinder können nicht zum Sportverein und unterliegen einer »Stallpflicht in der elterlichen Wohnung«, während die Hartz-IV-Eltern ohne gesellschaftliche Anerkennung daneben hocken. »Die Volksvertreter zahlen abends im feinen Restaurant 345 Euro beim Essen mit Mutti, die Erwerbslosen müssen davon einen Monat leben«, kritisiert sie außerdem die zunehmende soziale Kluft.

Wer nach all der Aufregung einmal austreten muss, stößt auf ein riesiges Banner, das auf einer Breite von etwa 16 Metern die Dixi-Klos überspannt. »Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD: Gegen den sozialen und politischen Notstand der Republik«. Es besteht also noch Hoffnung. Vielleicht kann die KPD ja diesmal die Republik retten.