Es ist vollbracht!

Die Klasse und ihre Partei von deniz yücel

Der Traum, der Thomas Müntzer und Scheich Bedreddin zum Aufstand bewog, den die »Bergpredigt« für ein Leben nach dem Tode verhieß und den François Babeuf und die Seinen im Diesseits verwirklichen wollten, der Traum, den Karl Marx und Friedrich Engels in einem kühnen Moment von der Utopie zur Gesetzmäßigkeit beförderten und zu dessen Verwirklichung sich die Sozialdemokratische Partei gründete, dieser Traum von einer klassenlosen Gesellschaft ist Realität geworden. Hier und Jetzt! Aus berufenem Munde, von Franz Müntefering, konnten wir in der vorigen Woche die frohe Botschaft vernehmen, dass zumindest hierzulande die Sozialdemokratie ihren historischen Auftrag erfüllt hat: »Es gibt keine Schichten in Deutschland.«

Gerade ein Menschenleben ist es her, dass Münteferings Vorgänger im Heidelberger Programm schrieben: »Die Sozialdemo­kratische Partei kämpft nicht für neue Klassen­privile­gien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst.« 1925 war das, als von diesem Kampf niemand ernstliches zu befürchten hatte. Nach einem zwölfjährigen, aber folgenreichen Zwischenspiel, in dem Kapital und Arbeit zu Teilen eines Organismus erklärt wurde, durfte die Partei die nächste Etappe vermelden: »Der einst das bloße Ausbeutungsobjekt der herrschenden Klasse war, nimmt jetzt seinen Platz ein als Staatsbürger«, hieß es 1959 im Godesberger Programm.

Fortan sollte es darum gehen, die ökonomische, politische und kulturelle Teilhabe der Arbeiter zu mehren. Man sprach nicht länger von »Klassen«, nur von »Schichten«. War die Zugehörigkeit zu einer Klasse etwas Schicksalhaftes und mehr oder minder Unveränderliches und besaß darum die Klasse gemeinsame Interessen, waren Schichten durchlässig und änderbar. In der Schicht gab es nur das Interesse des Einzelnen, aufzusteigen und nicht abzusteigen. Ein wachsender Wohlstand schien dafür zu sprechen, dass die Grenzen zwischen oben und unten an Bedeutung verloren. So wichtig war der Unterschied zwischen Mallorca und Marbella ja auch nicht.

Doch dann begann das Ende dessen, was als »Fordismus« bezeichnet wird. Die klassische Fabrikarbeiterschaft löste sich auf, man brauchte immer weniger Arbeiter, um immer mehr Waren zu produzieren, die Lebenswelten differenzierten sich, alles schien so bunt und unübersichtlich, dass mancher Pfiffikus gleich die Existenz von Gesellschaft in Frage stellte: »There’s no such thing as society, there are individual men and women«, sagte Margaret Thatcher, die Jeanne d’Arc des Neoliberalismus, just in dem Moment, als die Bourgeoisie den Klassenkompromiss aufzukündigen begann.

Nun ist Münteferings Evangelium nicht unwidersprochen: »Wir leben eben in einer Klassengesellschaft«, sagt sein Parteifreund Wolfgang Thierse. Vielleicht deutet diese gegensätzliche Wahrnehmung auf den Unterschied zwischen jenen hin, die daran glauben oder dies vorgeben, dass die Deklassierten integriert werden können, und jenen, die die Unterschicht abgeschrieben haben. Und vielleicht ist der Widerspruch zwischen Thierse und Müntefering nicht so groß, wie er scheint.

Soziologisch die Existenz von Klassen nachzuweisen ist ein Leichtes, es genügt ein Blick in offizielle Statistiken, um zu sehen, wie das Vermögen verteilt ist und wie viele Menschen darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Anders verhält es sich mit der »Klasse« als politischer Kategorie. Wenn die Organisation der Lohnabhängigen an einem »Aktionstag« weit weniger Menschen auf die Straße zu bringen vermag, als an einem gewöhnlichen Spieltag die Bundesligastadien besuchen, und wenn selbst diese wenigen nur »den sozialen Frieden« wahren wollen, kann man Münte und Maggie getrost zustimmen: Es gibt keine Klassen. Außer einer. Und deren Geschäft bestand immer darin, die Existenz von Klassen abzustreiten.