Irgendwas fehlt immer

Wie der Nationalsozialismus in der Alpenrepublik fortwest: »Das Wetter vor 15 Jahren« und die Brenner-Krimis des österreichischen Autors Wolf Haas. von philipp steglich

Es ist also ein Liebesroman geworden. Oder auch nicht. Wolf Haas legt nach drei Jahren wieder ein Buch vor, das nicht wieder ein Krimi werden durfte, hat er doch in seiner sechsten und letzten Brenner-Geschichte »Das ewige Leben« den Erzähler sterben lassen. Früher, im Europa der sechziger Jahre, hieß die programmatische Forderung: »Der Autor ist tot«, um endlich nicht mehr in den Eingeweiden der Verfasser nach dem Sinn der literarischen Werke suchen zu müssen. Wenn aber jetzt der Erzähler tot ist, muss wohl doch der Autor sprechen. Und so ist der gerade erschienene Roman »Das Wetter vor 15 Jahren« als Interview ausgeführt, zwischen einem Autor, der – der Einfachheit halber – gleich »Wolf Haas« heißt und einer Redakteurin, die unter der Bezeichnung »Literaturbeilage« ihre Fragen stellt.

Ein 200seitiger Dialog, in dem sich die beiden über den angeblich jüngsten, fiktiven Roman von Haas unterhalten. Dessen Geschichte lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Ein gewisser White-collar-Worker aus dem Ruhrpott, Kowalski, tritt bei »Wetten, dass …?« auf und kann dort für jeden verdammten Tag der letzten 15 Jahre die Wetterverhältnisse in einem kleinen österreichischen Tou­ris­tenort angeben. Nach seinem Fünf-Minuten-Ruhm im TV fährt er, angestiftet von seinem Freund, erst­mals wieder dorthin, wo er einst von den eigenen Eltern gezwungen seine Ferien verbrachte.

Der Grund für seine Pedanterie, alles über das Wetter in diesem Kaff wissen zu wollen, ist natürlich: eine Frau, also das damalige Mädel aus dem Dorf, mit dem er seine Sommer verbrachte, bis die beiden nach einem gewaltigen Unwetter für immer voneinander getrennt wurden. Er fährt zurück, an die Stätte seiner Jugend, ohne eigentliches Ziel, vielleicht um sich Gewissheit zu verschaffen, denn an die unerhörte Begebenheit hat er kaum, allenfalls vage Erinnerungen. Seine Wiederkehr führt ihn letztlich ins Krankenhaus, wo dann der Autor Wolf Haas selbst seinen Protagonisten Kowalski bei der Recherche für sein Buch interviewt haben will. Und in diesem Spital wird Kowalski von seiner Jugendbekanntschaft mit einem Kuss beglückt.

Es handelt sich also um Metafiktion. In dem fiktiven Gespräch zwischen Haas und der Literaturredakteurin wird nicht nur über den ebenso fiktiven Roman gesprochen, den Haas geschrieben haben soll, sondern gleichfalls über die – letztlich verwor­fenen – Romanentwürfe. Dabei ist der Dialog als doppelte Satire zu sehen, einmal als Persiflage auf den Alltag des Literaturbetriebs und das andere Mal auf die Schwierigkeiten bei der Verständigung zwischen Österreichern und Bundesdeutschen. Denn die Redakteurin wird als Norddeutsche gekennzeichnet, die alle zweieinhalb Seiten »würklich« sagt und gerne Ausdrücke wie »too much« verwendet, die anscheinend in der Alpenrepublik immer noch nicht alltäglich geworden sind.

Das fünf Tage dauernde Interview behandelt auch die Fragen des Schreibens selbst. Schwierigkeiten, die ganz banal sind, so sagt Haas: »Mein Problem war ja weniger der Anfang, also wie fang ich an, sondern wo tu ich den Kuss hin. Man kann ja den nicht hinten, wo er fällig ist sozusagen. Das ist ja unerträglich. Wenn einer fünfzehn Jahre auf einen Kuss gewartet hat, oder wie Sie sagen, hingearbeitet, und dann kriegt er ihn, wie will man das beschreiben.«

Aber nicht nur die zeitliche Ordnung des Romans, sondern auch der Kampf um die Interpretationshoheit ist Gegenstand der Diskussion, also inwiefern die Schilderung einer Luftmatratze in ihrem jeweiligen Schlaff- bzw. Prallheitszustande Anlass für eine sexuelle Interpretation geben kann. Dankenswerterweise schmückt denn auch eben diese kuriose Luftmatratze Cover und Rückseite des Buches.

Aber Haas, der keinen Krimi mehr schrei­ben wollte, hat einen weiteren vorgelegt. Denn so wie ein jeder »Tatort« in der ARD am Sonntagabend mit einer erschütternden Gewalttat anfängt, so beginnt »Das Wetter« mit einem Kuss. Wie konnte es nur so weit kommen? Indizien werden vorgeführt, falsche Fährten gelegt, verdächtige Nebenpersonen eingeführt, und dann kommt es zum Showdown. Und wie geschickt Haas die Möglichkeiten seines Dialogromans testet, beweist sein großes Können. Auch dafür hat er wohl den diesjährigen Wilhelm-Raabe-Preis bekom­men.

In einem sollte man dem Autor jedenfalls nicht vertrauen: »Ja, das ist mein erstes Buch, in dem niemand was amputiert wird.« Denn eben diese fortwährenden Amputationen haben sich ja durch alle vorherigen sechs Brenner-Krimis durchgezogen, die nun auch neu, komplett in Kassette als Paperback, erschienen sind. Diese Romane sind ein beglückendes Le­seereignis, das man sowohl vor, als auch nach der Lektüre des neuen Romans »Das Wetter … « unbedingt wagen sollte.

Denn in diesen sechs Büchern ist Haas eini­ges gelungen. Einmal hat er mit dem Privatdetektiv Simon Brenner, der in der Jugend gern Jimi Hendrix hörte, einen interessanten Helden geschaffen, der sich aber jeder Leseridentifikation verweigert. Brenner, ein ehemaliger Polizist, ist ein ruhe- und heimatloser Underdog, der auf die Frühpensionierung schielt. Er wird mehr in die Fälle verwickelt, als dass er sie lösen könnte. Haas zeichnet das Bild hinter den Kulissen, lässt seinen Detektiv in einem Ausflugslokal, einem katholischen Jungeninternat und einem Bordell hausen und dort ermitteln. Der eigentliche Aufklärer ist nur mehr prekärer Dienstleister, ein Außenseiter mit Mi­gräne und wenig Überblick, ein Getriebener der Geschichte, einer, der oft aus Versehen mehr mörderische Handlung auslöst, als er aufklärt. Eine Perspektive von unten also. Denn das Geschehen betrachten, und vor allem gestalten, können nur »die da droben«, die Herrschenden, die Großkopferten. Und Brenner muss bei seinen Ermittlungen leiden: Mal kommt ihm das Gehör abhanden, mal die Wade.

Der zweite Kunstgriff Haas’ ist die Einführung eines Erzählers. Der ist kein auktorialer Obendrüber, sondern ein Schwadroneur, der nicht nur über den Brenner und seine Mordfälle erzählt, sondern gern auch abgleitet in Be­trachtungen des Alltags. Das klingt dann manch­mal nach Stammtisch, manchmal ist es Küchen­philosophie. Immer ist es ein launiger Kom­mentar, der den Leser direkt anspricht. Ob der Erzähler über Wurstherstellung, Volksfeste, die Liebe oder gleich den Tod sinniert, immer bricht er die vorgeblich allgemeingültigen Betrachtungen und Sentenzen auf die triste Wirklichkeit herunter. Wenn sich Brenner an die Dienstjahre bei der Polizei erinnert, heißt es: »Auf einmal ist er wieder auf dem Holzstuhl in der Polizeischule gesessen, wo sie ihnen auch immer diese Weisheiten hineingedrückt haben. ›Die Exekutive ist eine der drei Säulen der Demokratie.‹ Diesen Satz hat der Brenner in der Polizeischule so oft gehört, daß er damals automatisch angenommen hat, er stimmt nicht, praktisch Trotzcharakter. Und was er dann im Poli­zeidienst in dieser Hinsicht erlebt hat, damit möch­te ich jetzt lieber gar nicht anfangen, sonst springst du mir noch von der Brücke.«

Der Leser wird immer ein wenig gewarnt vom Erzähler: »Frage nicht«, lautet der gängige Imperativ des Buches, der den Sentenzen oft nachgeschoben wird. Aufklären, nachfragen führt einen direkt an, und wenn man nicht aufpasst, auch in die Gräber. Dann wird die hendlbratende Jausenstation, ein Ausflugslokal, flugs zu Knochenmühle und Beinhaus. Idylle ist Terror.

Haas zerlegt das postnationalsozialistische Österreich mitleidslos. Was als Grundfeste der Republik gilt, wird als eine Illusion entlarvt, die die Täter, ja das Täter-Alpenvolk selbst zu glauben anfing. Exemplarisch wird das schon im ersten Brenner-Roman »Auferstehung der Toten« abgehandelt. Der gewaltige Bau des 1951 fertig gestellten Kapruner Stausees bedroht das tiefer gelegene Städtchen Zell am See, in dem die Handlung des Romans spielt. Der Bau, der seitdem als »Sym­bol der Republik« gefeiert wird, ist aber im Jahr des Anschlusses an Nazideutschland begonnen und vor allem von Zwangsarbeitern ausgeführt worden. Bei Haas steht die historische Wahrheit, auf der Homepage des Städtchens liest man bis heute nur vom »Engagement der Kapruner Bürger«.

Das große Verdienst von Haas besteht darin, diese Anklage lakonisch vorzubringen. In einer Sprache, die eben nicht das große Wort führt, sondern fast jeden Satz unvollständig, als Ellipse enden lässt. Die Vorgänge werden mitleidslos geschildert, nicht jedoch ohne Humor und mit Leidenschaft für durchaus skurrile Situationen. Haas’ Romane sind kein heiteres Abschiednehmen. Aber sie können muster­gültig sein, für eine unpathetische, unprätentiöse Auseinandersetzung mit der postnationalsozialistischen Gegenwart, die – und darauf kommt es an – ebenso unerbittlich geführt werden muss.

Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006, 224 S., 18,95 Euro.

Wolf Haas: Die 6 Brenner-Romane. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006, 6 Bd., 48 Euro