Katsav vor dem Fall

Gegen Israels Staatspräsidenten soll Anklage u. a. wegen Vergewaltigung erhoben werden. Krisen, Krieg und eine sensationslüsterne Berichterstattung haben das Vertrauen in die Politiker erschüttert. von andrea livnat, tel aviv

Von Höschen und Geschlechtsteilen, von Vergewaltigung und sexueller Nötigung ist die Rede in den Empfehlungen, gegen den israelischen Staatspräsidenten Anklage zu erheben, die die Polizei vergangene Woche an die Staatsanwaltschaft übergab. Damit ist der größte Sex-Skandal in der Geschichte des Landes offiziell. Staatspräsident Moshe Katsav werden Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, aber auch Vorteilsnahme, geheime Abhörmaßnahmen und Belästigung von Zeugen vorgeworfen.

Viele sehen in der Katsav-Affäre einen nie da gewesenen Tiefpunkt, der für den Zustand von Politik und Gesellschaft symptomatisch ist. Die israelische Öffentlichkeit hat seit langem das Gefühl, dass sich das Land in einer tiefen Krise befindet, die Regierung, Knesset, Rechtssystem, Armee und deren Füh­rung umfasst. Man beklagt den Verfall von Werten, Korruption, Bestechung, Verwicklungen in kriminelle Machenschaften und dazu die Gleichgültigkeit der Politiker hinsichtlich der drängenden gesellschaft­lichen Probleme, allen voran der Armut.

Katsav ist dabei nicht der einzige Vertreter der po­litischen Führungsriege, gegen den ermittelt wird. Tatsächlich laufen derzeit gegen jeden zehnten Abgeordneten des Parlaments Ermittlungen. In den ver­gangenen Jahren ist zudem die Kluft zwischen Reich und Arm weiter gewachsen. Während ein Drittel aller Kinder heute unter der Armutsgrenze lebt, beziehen Manager und Politiker immens hohe Gehälter. Die Medien verbreiten immer wieder, wobei sie sich hoher Verkaufszahlen sicher sein können, Listen mit Spitzengehältern. Die meisten Israelis empfinden es als schamlos, diese Zahlen zu vernehmen und gleichzeitig um diejenigen zu wissen, die sich zum Neujahrsfest noch nicht einmal ein Butterbrot leisten können. Bedauerlicherweise hat sich Sheli Jachimowits, eine der besten Journalistinnen, die für das zweite israelische Fernsehen arbeitete, mittlerweile in die Politik begeben. Sie kommentierte besonders scharf und pointiert eben jene Missstände, bevor sie sich vor den letzten Wahlen der Arbeitspartei anschloss und nun in der Knesset sitzt, wo es sehr still um sie wurde. Sie hätte beispielsweise thematisieren könnten, wie es sein kann, dass Staatspräsident Katsav auch im Falle einer Verurteilung wegen Vergewaltigung eine Pension von 8 000 Euro monatlich genießen wird, dazu ein Appartement in Jerusalem mit Telefon, Haushaltshilfe und Fahrer auf Staatskosten.

Der eigentliche Skandal um Katsav begann bereits wesentlich früher, nämlich mit seiner Wahl zum Staatspräsidenten. Bis dahin waren Israels Präsidenten stets Persönlichkeiten, die sich auch außerhalb der Politik verdient gemacht hatten, allen voran der erste Präsident Chaim Weizmann, der zuvor mehr als 20 Jahre Präsident des Zionistischen Weltkongresses und zudem ein bedeutender Chemiker war. Später reihten sich andere Wissenschaftler, wie der Biophysiker Ephraim Katzir, und Intellektuelle wie Salman Shasar oder Jitzhak Navon in die Liste der israelischen Präsidenten ein. Mit Katsav wurde im Jahr 2000 erstmals ein Politiker gewählt, der ganz einfach nur ein Politiker war, noch nicht einmal ein besonders bekannter, aber eben Kandidat der konservativen Likud-Partei.

Er konnte sich gegen Shimon Peres, den ewigen Verlierer, durchsetzen, wobei die religiöse Shas-Partei das Zünglein an der Waage spielte – und sich ironischerweise unter anderem für Katsav aussprach, weil sie in ihm einen traditionell religiösen Juden mit hohen ethischen Grundsätzen sah. Trotz seiner beeindruckenden Biografie – er wurde im Iran geboren, kam mit seiner Familie im Alter von sechs Jahren nach Israel, wo er sich nach oben arbeitete, und mit 24 zum jüngsten Bürgermeister des Staates und acht Jahre später in die Knesset gewählt wurde – hat Katsav lediglich die Politik des Likud vertreten. Diese Tatsache kann als symptomatisch für die Veränderungen in der israelischen Gesellschaft gesehen werden.

Verändert haben sich auch die Presselandschaft und die Medien. In den vergangenen Jahren ist eine zunehmende Sensationslüsternheit zu beobachten. Wenn es auch der hartnäckigen Recherche von Journalisten zu verdanken ist, dass viele Korruptionsfälle überhaupt aufgedeckt werden, gewinnt zugleich eine Berichterstattung im Stil der Yellow Press an Boden.

Katsav ist daher für die Medien das gefundene Fressen. Um den Skandal und die Frage, ob er zurücktreten sollte, ist geradezu eine Medienschlacht entbrannt. Besonders geschmacklos agierte vergan­gene Woche die Zeitung Jedioth Achronoth in einer Sondernummer, in der die Mutter des Präsidenten zu Wort kam. »Es kann nicht sein, dass er seine Frau Gila betrogen hat«, so Gohar Katsav, er habe doch schon Enkelkinder, wie könne man ihm so etwas vorwerfen. »Wenn mir etwas zustößt, dann hat mich das umgebracht«, drohte sie und begab sich kurz darauf zum wiederholten Male in ein Krankenhaus.

Auch in Israel gilt der Grundsatz, dass man so lange unschuldig ist, bis die Schuld bewiesen ist. Doch die Medien haben das Urteil über Katsav bereits gesprochen, sein Ruf ist auf jeden Fall ruiniert. 52 Prozent der Israelis glauben nach einer Umfrage der Zeitung Maariv, dass Katsav Mitarbeiterinnen vergewaltigt hat.

Die aggressive Rolle der Medien wurde auch im Lauf des Libanon-Kriegs deutlich. Die Berichterstattung war so intensiv, dass sie teilweise die militärischen Operationen störte. Wie im Nachhinein bekannt wurde, musste eine Operation sogar abgebrochen werden, weil über sie bereits im Fernsehen berichtet worden war. Alle hohen Offiziere waren mit den Rufnummern der wichtigen Journalisten ausgestattet und pflegten diese Kontakte. Die Untersuchungen über den Krieg werden sich auch mit diesem Aspekt befassen müssen.

Diese Untersuchungen zum Krieg zeigen bisher, dass es Verfehlungen in den oberen Führungsriegen der Armee gegeben hat. Auch hier kriselt es gewaltig. Bezeichnend dafür waren die Äußerungen von Generalmajor Ron Tal Anfang Oktober in einem Interview mit der Wochenzeitung der orthodoxen Chabad-Bewegung. Darin griff er den Gene­ralstab an und behauptete, dass der Krieg wegen des Rückzugs aus Gaza gescheitert sei. Ron Tal, der kurz vor dem Ende seiner Dienstzeit steht und offen­sichtlich eine politische Karriere anstrebt, wandte sich bewusst an die rechte Leserschaft von Chabad. Er forderte nichts weniger als den Rücktritt von Generalstabschef Dan Chalutz, der ihn entlassen hat, nachdem der Major ein Treffen zur Einigung platzen ließ.

Die Vertrauenskrise, die durch den Libanon-Krieg entstanden ist, hat auch für das erneute Aufleben einer Diskussion um eine Reform des Regierungssystems gesorgt. In den 58 Jahren des Staates gab es 31 Regierungen, was nicht nur an den politischen Auseinandersetzungen liegt. Eine solche Reform könnte etwa Misstrauensvoten erschweren, die Sperrklausel erhöhen und die Zahl der Minister begren­zen.

Für die Zukunft des Landes ist auch die Wahl des nächsten Präsidenten von besonderer Bedeutung, denn der hat die schwere Aufgabe, das Vertrauen der Bürger in den Staat und seine Institutionen zu erneuern oder zumindest die Weichen in diese Richtung zu stellen. Bisher sind als Nachfolger von Katsav wiederum ausschließlich Politiker im Gespräch, darunter der ehemalige Knesset-Spre­cher Rubi Rivlin, Shi­mon Peres, der allerdings eine erneute Niederlage scheuen dürfte, sowie der ehemalige Minis­ter Nathan Sharansky. Ministerpräsident Ehud Olmert ist angeblich auf der Suche nach einem »unpolitischen« Kandidaten, Gerüchte um eine mögliche Kan­didatur von Elie Wiesel wurden jedoch dementiert.