Selbst dran schuld

Nicht etwa die SPD, die dazu beigetragen hat, dass es den Armen noch schlechter geht, wird für die Verelendung verantwortlich gemacht, sondern die Armen selbst. Dabei muss man nicht einmal arbeitslos sein, um arm zu sein. von stefan frank

Nun hat man wieder einmal eine vermeintlich neue Armut entdeckt, und natürlich kann man sich in unserer anständigen Gesellschaft die Armen nur als Arbeitslose vorstellen. In Wirklichkeit ist ein großer Teil der Armen berufstätig. Die Zahl der unbefristeten Vollzeitarbeitsverhältnisse ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten stetig zurückgegangen, bei den erwerbstätigen Männern von 75 auf 60 Prozent, bei den erwerbstätigen Frauen von 50 auf 40. Deutlich zugenommen haben befristete Beschäftigungen und Leiharbeit. Dieser Entwicklung wollte die Regierung Schröder bekanntlich nicht tatenlos zusehen, sondern sie beschleunigen.

Eines der wichtigsten Ziele der »Arbeitsmarktreformen« war es, Beschäftigungsverhältnisse zu »flexibilisieren« und dafür zu sorgen, dass noch mehr Arbeitskraft zu aller­niedrigsten Preisen zur Verfügung steht. Den Angaben des Instituts Arbeit und Technik Gelsenkirchen zufolge arbeiten in Deutschland mindestens sechs Millionen Menschen für Stundenlöhne unter der Niedrig­lohn­schwelle – das sind weniger als 9,83 Euro in West- und 7,15 Euro in Ostdeutschland.

Drei Viertel der Leiharbeiter haben ein Bruttoeinkommen von weniger als 2 000 Euro im Monat; bei befristeten Arbeitsplätzen (ohne Leiharbeiter) sind es 61 Prozent und bei unbefristeten Vollzeitarbeitsplätzen immerhin noch 32 Prozent. Von den Teilzeitbeschäftigten in Deutschland erhalten nur 20 Prozent ein Einkommen von mehr als 1 500 Euro brutto, 47 Prozent bekommen weniger als 800 Euro.

Ein anderes Lieblingsprojekt der früheren Regie­rung waren die »Minijobs«. Doch werden sie vom Proletariat schamlos ausgenutzt, wie einige Sozialdemokraten herausgefunden haben. 1,8 Millio­nen Menschen, die mit ihrem Haupterwerb nicht genug verdienen, haben zusätzlich einen 400-Euro-Job. Indem sie 50, 60 oder mehr Stunden in der Woche schuften, wollen sie sich an der für sie vorgesehenen Armut vorbeimogeln. Damit hatten die Autoren der Agenda 2010 gewiss nicht gerechnet. Jetzt wollen sie den Fehler korrigieren: »Solche Minijobs im Nebenerwerb leisten wirklich keinen Beitrag, um Arbeitslosen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern«, sagt Klaus Brandner, der Arbeitsmarktexperte der SPD. Wer schon eine regu­läre Arbeit ausübt, soll seiner Ansicht nach gar nicht mehr über ermäßigte Sozialabgabensätze gefördert werden, auch die Geringfügigkeitsschwelle von bisher 400 Euro monatlich möchte er gesenkt wissen. Diese geplante Maßnahme gegen den am allerhärtesten arbeitenden Teil des Proletariats zeigt, dass es der SPD keineswegs allein um die Bestrafung von Arbeitslosen geht.

Ob Gesundheits-, Arbeitsmarkt- oder Rentenreform, ob Erhöhung der Mehrwertsteuer oder Kürzung der Pendlerpauschale, stets ist die Senkung des Reallohns das Ziel. Eine solche Politik verbreitert die bestehende Armut, dies ist ebenso zwangsläufig und logisch wie Regen zu Nässe führt oder die Lektüre eines Romans von Günther Grass zu vorzeitiger Verblödung.

Fritz Kuhn, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, sagt, Hartz IV sei nicht schuld an der Armut, sondern habe »die verdeckte Armut reduziert«. Offene Armut ist besser, scheint er zu denken.

Natürlich gibt es Armut in Deutschland nicht erst seit dem Hartz-Programm. Es hat den Abstieg bloß beschleunigt, da das Arbeitslosengeld II unabhängig ist vom zuletzt verdienten Lohn. Außerdem hat sich mit Hartz IV die Vorstellung durchgesetzt, dass Armut ein Verbrechen sei, das bestraft werden müsse.

Diese Ansicht wird nun in der Unterschichtendebatte weitergesponnen. Es fällt auf, dass von den working poor nicht die Rede ist. Da die Ideologieproduzenten nicht zugeben dürfen, dass die herrschende Produktionsweise nicht in der Lage ist, allen ein Auskommen zu sichern (es wäre auch unfair, den Kapitalismus daran zu messen, für diesen Zweck war er ja nie gedacht), darf nicht die Rede sein von Menschen, die zwei oder drei gering bezahlten Tätigkeiten nachgehen und trotzdem kaum genug Geld zum Leben haben.

»Kein Mitleid mit den Armen«, lautet die Devise. Schließlich sind sie faul, hässlich und moralisch verworfen. Um die eigene Strafsucht und die der Leser zu befriedigen, werden die Armen in hämischen Zeitungsbeiträgen als körperlich und geistig Degenerierte dargestellt, die in einer Welt leben, die mit der unseren gar nichts zu tun haben soll.

Ein gutes Beispiel ist ein Beitrag aus dem stern. Ausgerechnet in diesem Blatt der intellektuellen Unterschicht erschien in der vorigen Woche eine »Reportage aus der bildungsfreien Zone«. Statt über den bildungsfreien stellvertretenden Chefredakteur Hans-Ulrich Jörges zu schreiben, hat der Reporter eine lange Reise angetreten. So, wie im 19.        Jahrhundert Schriftsteller zu anderen Kontinenten fuhren, um ihren Lesern abenteuerliche Geschichten über das Leben der Wilden zu erzählen, reiste er ins Herz der Finsternis, nach Essen-Katernberg.

Zurückgekommen ist er mit der Erkenntnis, dass es den Armen nicht an Geld fehle, sondern dass sie zu viele Süßigkeiten essen und als Kinder nicht die »Sendung mit der Maus« geguckt haben: »Noch nicht in der Schule und schon abgehängt, selbst beim Glotzen.« Auch schlimm: »Die Unterschicht lebt im Hier und Heute und kümmert sich nicht um die Zukunft.«

Dass die »Sendung mit der Maus« den Klassenunterschied zwischen Proletariat und Bourgeoisie begründet, wusste Friedrich Engels noch nicht. Ansonsten ist in seinem im Jahr 1845 erschienenen Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« die gesamte gegenwärtige Unterschichtendebatte enthalten. Die vorherrschende Meinung war, dass sich die Fehler der Arbeiter »überhaupt alle auf Zügellosigkeit der Genusssucht, Mangel an Vorhersicht und an Fügsamkeit in die soziale Ordnung, überhaupt auf die Unfähigkeit, den augenblicklichen Genuss dem entfernteren Vorteil aufzuopfern, zurückführen« ließen.

Der Kasseler Soziologe Heinz Bude ist schon etwas weiter. Er glaubt, dass die Börse an der Armut schuld sei: »Hier wirken die neunziger Jahre noch nach. Ihre Botschaft: Erfolg ohne Leistung. Du musst nur cool genug sein. Diese Botschaft, die mit dem Börsencrash 2001 endgültig zu Ende war, ist bei der Unterschicht irgendwie hängen geblieben.« Bis dahin war es nämlich gang und gäbe, dass die Sozialhilfe sofort an der Börse verprasst wurde.

Da das Geld, das früher in Microsoft- und Yahoo-Aktien floss, heute in Gummibärchen und Hamburger investiert wird, würde für die Armen alles viel schlimmer, wenn man ihnen mehr Geld in die Hand gäbe, glaubt man beim Stern: »Sydneys Mutter würde ihre Kinder häufiger zu McDonald’s einladen. Der dicke Herr Hupa würde sich mehr Weingummis vom Büdchen holen.«

Alle Politiker und Meinungsbildner sind sich, wie immer, einig: Mit mehr Geld lasse sich das Problem der Armut nicht lösen. Denn eigentlich geht es den Armen schon jetzt viel zu gut. Da sie, wie überall zu hören und zu lesen ist, dick und faul sind, lautet der aus dieser Erkenntnis zu ziehende Schluss: Peitsche statt Zuckerbrot.