Immer dieselben Jeans

Eins von sechs Kindern in Deutschland wächst in Armut auf, und die Tendenz steigt. Eine Strategie zur Bekämpfung der Kinderarmut hat die Große Koalition nicht. von martin kröger

Der Prozess der Verarmung ist schleichend.« Mark Boysen weiß, wovon er spricht. Der 34jährige ist in der »offenen Jugendarbeit« tätig und versucht, seine Klientel mit »niedrigschwel­ligen Angeboten« bei der Freizeitgestaltung zu unterstützen. »Hier bei mir im Club können sich die Jugendlichen nach der Schule aufhalten, abhängen und sich über ihre Probleme austauschen«, erzählt er.

Bereits seit zehn Jahren macht Boysen Sozialarbeit mit Jugendlichen, war im Ost- wie im Westteil Berlins beschäftigt. Jedes Mal musste er zunächst das Vertrauen der Kids gewinnen, um überhaupt zu erfahren, was ihre großen Probleme sind. Hierzu zählt nach den Beobachtungen des Sozialarbeiters immer häufiger schlicht die materielle Armut. Bei geplanten Ausflügen oder Projektwochen wird das Problem offenbar: Obwohl die Kosten für die Jugendlichen bewusst niedrig gehalten würden, könnten es sich viele von ihnen einfach nicht leisten mitzukommen, erzählt er. Überdies gebe es in seinem Club auffällig viele Kinder, die schmutzige Kleider trügen. »Bei mir kommen Kinder in den Jonglagekurs, die haben ständig denselben Pullover oder dieselben Jeans an, aber nicht weil sie das wollen, sondern weil sie einfach keine anderen haben«, sagt Boysen. Nicht über das richtige Outfit zu verfügen, ist für viele Jugendliche kein geringes Problem. Sie lösen das oftmals, indem sie die Sachen klauen oder anderen abnehmen.

Das Phänomen der Kinderarmut entspricht Boysen zufolge jedoch nicht immer den Klischees, sondern ist vielschichtig und komplex. Zwar seien in den Einrichtungen, wo er gearbeitet habe, sehr häufig migrantische Kinder betroffen gewesen. Die Armut werde jedoch oftmals mit der Hilfe von Familienmitgliedern kompensiert, etwa durch einen großzügigen Onkel, oder durch Jobs in den eigenen ökonomischen Strukturen. Diese Möglichkeit hätten Kinder aus armen deutschen Familien viel seltener, meint Boysen. »Deren Armut ist direkter sichtbar.« Generell festzustellen sei nur: »Mädchen sind viel häufiger betroffen als Jungs.«

Die Auswirkungen für die Jugendlichen könnten extreme Auswüchse annehmen. »Das Billig-Frühstück bei Ikea zählt für viele Familien in den Ferien zum Alltag«, sagt Boysen. Andere können sich selbst das nicht mehr leisten. Sie schicken ihre Kinder täglich in Suppenküchen oder in Einrichtungen wie jene des Vereins »Die Arche« in Berlin-Hellersdorf, wo tagtäglich über 200 Kinder im Alter von drei bis 19 Jahren betreut werden. Zum Großteil aus Spenden finanziert, ist der Verein inzwischen an vielen Orten in Deutschland aktiv, so auch in Hamburg und München. Der Träger des Zentrums in Berlin, das Christliche Kinder- und Jugendwerk, beschränkt sich nicht auf das Ziel, die Kinder von der Straße zu holen, sondern versucht darüber hinaus, eine Öffentlichkeit für sie herzustellen.

Auch in der Wahrnehmung der Mitarbeiter der »Arche« ist die materielle Armut von Kindern in Deutschland enorm angestiegen: »An dieser Stelle gilt es verschärft zu betonen, dass Armut und Niedrigeinkommen nicht mehr das Schicksal einer kleinen, randständigen und sozialpolitisch vernachlässigten Gruppe ist. Vielmehr ist das Armutsrisiko heute zur Lebenswirklichkeit einer großen Zahl von Normalbürgern, Normalarbeitnehmern und Normalfamilien geworden«, schreibt der Verein auf seiner Homepage.

Wie einschneidend sich die Lebenswirklichkeit für viele Kids in Deutschland verändert hat, belegt eine im Spätsommer gemeinsam von der Unicef, dem Deutschen Kinderschutzbund und dem Bündnis für Kinder herausgegebenen Studie. Die Organisationen hatten unter dem Motto »Ausgeschlossen – Kinderarmut in Deutschland« Ende August zu einem politischen Forum geladen und in der Folge einen konkreten, zielorientierten Aktionsplan der Bundesregierung gefordert. Die Untersuchung kommt zu einem niederschmetternden Ergebnis: Über 2,5 Millionen Kinder leben in Deutschland auf Sozialhilfeniveau. Wegen der Einführung des Hartz IV-Gesetzes der rot-grünen Regierung hat sich die Zahl der armen Kinder seit 2004 fast verdoppelt. Gemessen am durchschnittlichen Jahreseinkommen von Familien zeigt die Studie überdies, dass Kinderarmut im vergangenen Jahrzehnt deutlich schneller gewachsen ist als die Armut anderer Bevölkerungsgruppen. Allein 40 Prozent der Alleinerziehenden seien als relativ arm anzusehen. Und: »Kinder aus Zuwandererfamilien wachsen deutlich häufiger in Armut auf als ihre deutschen Altersgenossen.«

Die Folgen dieser Entwicklung für die Kinder und Jugendlichen sind nach Ansicht der Kinderschutzorganisationen fatal. Sie müssen auf Taschengeld, Freizeit- und Sportangebote verzichten. Ihre Ernährung ist oftmals mangelhaft, was eklatante Folgen für ihre gesundheitliche Verfassung hat. Außerdem wirkt sich die Armut negativ auf den Zugang zur Bildung aus – vom Zugang zum sozio-kulturellen Leben ganz zu schweigen. »Viele Kinder weisen bereits bei der Einschulung Defizite bei Feinmotorik, Grobmotorik und Sprachfähigkeit auf«, resümiert der Bericht. Nur durch einen Paradigmenwechsel sei diese Entwicklung umkehrbar: »Der Abbau von Kinderarmut muss politische Priorität genießen«, forderten die Kinderorganisationen deshalb auf ihrem politischem Forum, zu dem sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel erschien.

»Passiert ist seitdem gar nichts«, sagt der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, im Gespräch mit der Jungle World. So sei überhaupt nicht erkennbar, dass das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Vorhaben, bis Ende 2006 ein Konzept zur Armutsbekämpfung vorzulegen, angegangen werde. Dabei gebe es neben den 2,5 Millionen armen Kindern weitere 1,2 Millionen, die in »prekären Verhältnissen« aufwüchsen. Deren Eltern verdienten lediglich geringfügig mehr als das verfassungsrechtlich zugesicherte Existenzminimum, bezögen keine staatlichen Leistungen und würden deshalb in der Statistik nicht aufgeführt.

Neben einer Verbesserung der frühkindlichen und ganztägigen Bildung und Betreuung gilt es, Hilgers zufolge, einen Familienlastenausgleich wie beispielsweise in Frankreich zu schaffen, um mehr Gerechtigkeit herzustellen und insbesondere die ärmsten Familien zu unterstützen. Zudem bedürfe es einer Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen, Jugendhilfe und Familien, um Extreme wie den »Fall Kevin« in Bremen oder den »Fall Jessica« in Hamburg künftig zu verhindern. Das einzig Positive sei gegenwärtig, dass die Politik das Problem anerkenne, sagt Hilgers. Eine neue Entwicklung: »Herr Kohl und Herr Schröder haben Kinderarmut immer bestritten.«