Deutsche Wertarbeit

Früher malte Neo Rauch die ostdeutsche Nachwende-Tristesse. Mittlerweile komponiert er Rätselbilder. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt eine Retrospektive. von tim ackermann

Mammutzahn, Dreispitz, Guillotine. Manch­mal scheint es, als habe Neo Rauch einen Theaterfundus ausgeplündert. Dazu die Nachtarbeiter, Funkmasten, haushohen Pilze, Kobolde, Kanonen und – nicht zu vergessen – die schorfigen Industriebrachen des sächsischen Hinterlandes. All das stopft der Leipziger Maler in seine Bilder, baut aus den Elementen überbordende Fantasiewelten, in denen es von Absonderlichkeiten wimmelt. Rauch, der einmal das Malen als »Fortsetzung des Traumes mit anderen Mitteln« bezeichnet hat, pocht dennoch auf die »Dechiffrierbarkeit« der dargebotenen Szenarien. Er lädt den Betrachter ein, seine Traumwelten zu enträtseln. Und der Betrachter rätselt.

So auch im Kunstmuseum Wolfsburg, bei der Rauch-Retrospektive mit dem Titel »Neue Rollen«. In Abwesenheit des Künstlers darf sich die Presse ihren eigenen Reim auf das Rauch’sche ­Oeuvre machen. Fachleute fachsimpeln also über das »narrative Element«, rufen den Surrealismus in den Zeugenstand, mühen sich, ein Quäntchen Sinn aus dem Dargebotenen zu destillieren. Freilich immer nach den gewohnten Spielregeln der Bildanalyse.

Es hat sich spürbar was geändert: Gut drei Dekaden nachdem Joseph Beuys den Kunstbegriff über die Grenzen der traditionellen Gattungen hinaus erweiterte, drängt Neo Rauch die Kunst wieder in das enge Geviert des Keilrahmens zurück. Er malt. Ausschließlich. Seit über 20 Jahren. Eine Beharrlichkeit, die bis vor kurzem hoffnungslos anachronistisch erschien. Doch seit ein paar Jahren sorgt die Malerei wieder für Furore. Rauch ist heute der bedeutendste Vertreter einer neuen Malergeneration aus Leipzig und wird wie ein Popstar verehrt.

Unter dem Label eines, wenngleich stark gebrochenen, »Sozialistischen Realismus« begeisterten die Bilder des 46jährigen zuerst die amerikanischen Sammler, später auch die europäischen. Und während der Abgesang auf die anderen Maler der »Neuen Leipziger Schule« schon eingesetzt hat, scheint Rauchs Erfolg ungebrochen. Im kommenden Jahr bekommt er eine Ausstellung im Metropolitan Museum of Art, New York. Vor seiner Ateliertür stehen die Museumsrepräsentanten dieser Welt Schlange. 300 000 Euro werden schon mal für eine frische Leinwand hingeblättert. Bei Auktionen darf es noch etwas mehr sein.

Über dieses Produktphänomen »Neo Rauch« verliert man in Wolfsburg allerdings kaum ein Wort. Getreu dem titelgebenden Motto »Neue Rollen« ignoriert die Ausstellung den Starkult und lässt den Künstler als bodenständigen Kreativarbeiter auftreten. Insgeheim wird so am Mythos Rauch weiter laboriert: der Maler als handwerklich perfekt geschulte, von unbändiger Arbeitswut getriebene Ausnahmegestalt. In Wolfsburg geht es nicht um den Menschen Rauch und seinen Marktwert. Es geht um die Kunst. Und um Kunstgeschichte, selbstverständlich: Markus Brüderlin, Wolfsburger Museumsdirektor, fragt nach dem kunsthistorischen Stellenwert des Rauch’schen Schaffens und zieht Vergleiche zu Baselitz, Kiefer und Richter. Der begleitende Katalog erwähnt noch Giotto und Piero della Francesca.

Rauchs solcherart gepriesene Kunst ist in Wolfsburg in Gestalt von 74 Gemälden präsent. Die ältesten stammen aus dem Jahr 1993, die neuesten sind auf 2006 datiert. Es sind also nach des Künstlers eigenen Worten alles »gültige Bilder« – im Gegensatz zu den expressionistisch angehauchten Werken, die er vor 1993 malte. Am Anfang des nahezu chronologischen Ausstellungsparcours finden sich die Rundbilder »Ufer« (1993), »Plazenta« (1993) und »Dock« (1994). Es sind düstere Visionen. Aus nachtschwarzem Untergrund scheinen sich zaghaft die ersten Umrisse von Gegenständen und Figuren zu erheben. Eine schwangere Frau etwa, eine Registrierkasse oder auch ein Molekülmodell. Schemen, die immer in Gefahr scheinen, wieder von den gegenstandslosen, dunklen Flächen eingesogen zu werden.

Mitte der Neunziger fließt dann die Farbe stärker in die Bilder ein, die Figuren behaupten sich besser – wenn auch wie zuvor als comichafte Charaktere. »Wirtschaftsräume« heißt in Wolfsburg der Raum, der Werke dieser Phase versammelt. Es sind jene Bilder, die Rauch erstmalig größere Aufmerksamkeit verschafften. »Nachtarbeiter« (1997) zum Beispiel: In einer Fabrikhalle schieben drei Arbeiter Spielzeugautos über einen Tisch. Ihr Auftrag erscheint obskur. Die Sprechblase, die über ihren Häuptern wabert, bleibt ebenso uneindeutig, da wortleer. Die Fabrik selber findet noch zweimal Eingang in die Bildkomposition: als Modellbaulandschaft auf dem Tisch und als graue Kopie jenseits der Fenster.

Rauchs Figuren jener Zeit werden noch im Anklang an den Sozialistischen Realismus bei ihrer »Arbeit« gezeigt. Sie sind jedoch ganz gewiss keine werktätigen Helden mehr, die für den Sieg des Sozialismus schuf­ten. Schon eher wirken sie wie arme Würstchen, die einem Beckett’schen Drama entstammen könnten. Sie werden zaudernd tätig, wobei ihnen der Sinn längst abhanden gekommen ist. Es ist ein absurdes Schauspiel, das der Künstler konkret verortet: Er zitiert nicht nur die sozialistische Einheitsarchitektur in seinen Bildern, auch seine Farbpalette hat den Muff von DDR-Produktdesign und tristem Nachwendetreppenhaus: altrosa, »Ata«-blau, senfgelb. Die Menschen als Strandgut eines untergegangenen Systems – Mitte der Neunziger malt Rauch seine rätselhaften Bilder als zeitgemäße Kommentare zum Übergangsraum Ostdeutschland. Ein Land, in dem tradierte Kenntnis und Werte sinnlos geworden sind.

Inhalt und Form, die sich hier aufs trefflichste ergänzen, beginnen spätestens ab 2002 auseinanderzudriften, wie der weitere Gang durch die Ausstellungshalle zeigt. Gewiss, die neueren Großformate sind handwerklich präziser, bieten mit ihren plastischeren Figuren und ihren knalligen Farbkontrasten mehr fürs Auge.

Dafür ist der Bildraum mit seiner verschachtelten Multi-Perspektive hoffnungslos überladen: So buhlen in »Neue Rollen« (2005) gleich drei gänzlich voneinander getrennte Szenen um die Aufmerksamkeit des Betrachters. In der linken Ecke hat sich ein Vierergrüppchen in altmodischer Kluft um einen Wirthaustisch versammelt. Zwei von ihnen schwenken Jakobinermützen. In der rechten Ecke erläutert eine Frau ihrem Sohn das Miniaturmodell eines Tsunamis. Im Hintergrund übt eine Laienspielgruppe die Exekution an einer Guillotine ein. Eine logische Verbindung zwischen den Episoden ist beim besten Willen nicht auszumachen.

Statt illustrierter Sinnlosigkeit nun Illustrationen ohne Sinn. Unter solchen Voraussetzungen muss jede Decodierung ergebnislos bleiben. Das Rätselhafte wird zum Selbstzweck, und die Durchdeklination des immer gleichen Figurenrepertoires lässt den Verdacht aufkommen, dass Rauch vor allem eine Masche kultiviert. Wenn sich doch einmal überraschend sperrige Symbole ins Blickfeld drängen – ein Selbstmordattentäter, ein Panzer – werden sie durch das sie umgebende Bildgewusel prompt wieder als leere Zeichen entwertet.

Unter Rauchs postmodernem Pinsel entstehen neuerdings Bilder, die wenig erhellen, aber viel über die Präferenzen des Künstlers sagen: Der Leipziger wehrt sich nicht gegen die Zuschreibung »deutscher Maler«. Ein Wort wie »Heimat« geht ihm locker über die Lippen. Da sind die Anleihen bei Romantik und Biedermeier nur konsequent. Heraus kommen Gemälde, deren spitzgiebelige Historien- und Heimatduselei sich ohne Bauchgrimmen goutieren lässt. Das Artwork zu »Deutsch­land – ein Sommermärchen« und Klinsi-Feeling sozusagen. Der Popularität muss das freilich nicht abträglich sein.

Neo Rauch: Neue Rollen. Kunstmuseum Wolfsburg. Bis zum 11. März 2007