Knüppel auf dem Markt

In der kolumbianischen Hauptstadt versucht die Polizei, arbeitende Kinder von den Straßen zu vertreiben. von knut henkel, bogotá

Den Polizisten Rojas kennen alle in Villa Javier, einem Stadtteil der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, und vor allem die Händ­ler auf dem Markt in der Straße des 20. Juli. Mehreren Frauen und der erst 13jährigen Erica hat der Uniformierte Tränengas ins Gesicht gesprüht. »Erica, aber auch mehrere der Frauen, darunter meine Mutter, mussten ins Krankenhaus, um sich die Verätzungen behandeln zu lassen«, sagt David Aceso Reña mit vor Wut zitternder Stimme. Der 21jährige ist nach dem Angriff auf seine Mutter ins Polizeirevier marschiert und hat Anzeige wegen Körperverletzung erstattet.

»Das traut sich sonst kaum jemand in Villa Javier und den angrenzenden Stadtvierteln«, sagt Salo­món González, Sozialarbeiter der Kinderrechtsorga­ni­sa­tion Creciendo Unidos. Die ist seit rund 20 Jahren im Stadtteil tätig und kümmert sich unter anderem um die Kinder der Frauen vom Markt des 20. Juli, dessen Stände sich entlang der Straße befinden.

»Den Markt gibt es schon, so lange ich denken kann«, sagt die 52jährige Marktfrau Gloria Varela. Seit ihrem sechsten Lebensjahr steht die kräftige Frau mit den Zahnlücken auf dem Markt, sieben Tage die Woche verkauft sie Avocados, Ananas und Mangos. »Insgesamt etwa 150 Familien leben vom Verkauf von Gemüse, Obst und anderen Artikeln. Doch die Polizei macht uns das Arbeiten auf dem Markt immer schwerer«, sagt sie. Sie ist froh, dass sie ihre Kinder bereits großgezogen hat, denn Eltern, deren Kinder auf dem Markt mitarbeiten oder auch nur zugegen sind, werden immer öfter drangsaliert. Strafen bis 80 000 Peso, umgerechnet knapp 30 Euro und damit das Doppelte des durchschnittlichen Tagesverdienstes, werden verhängt, wenn Kinder aufgegriffen werden, die als fliegende Händ­ler, als ambulantes, in Bogotá arbeiten.

»Das ›Ausmerzen‹ der Kinderarbeit, wie es in Kolumbien martialisch genannt wird, ist unrealistisch«, erklärt Solomón González. »Die so­zialen Unterschiede haben sich in den vergangenen Jahren weiter vergrößert, und viele Familien sind darauf angewiesen, dass die Kinder etwas dazu verdienen.« Das bestätigen auch Händler des Marktes vom 20. Juli, wie Gloria Varela. Sie vermutet allerdings, dass die Mütter ebenfalls verdrängt werden sollen. »Wir sind von der Polizei alles andere als gern gesehen. Uns wird immer öfter gesagt, dass wir auf einem öffentlichen Platz stehen und hier nichts zu suchen haben«, klagt die Frau.

Doch wo die rund 150 Familien hin sollen, weiß niemand so recht. »Und was die rund 90 000 Kinder machen sollen, die nach Schätzungen der Behörden auf den Straßen Bogotás vom Anhänger bis zur Zigarette alles mögliche verkaufen, darüber ist man sich ebenfalls nicht im Klaren«, kritisiert Reinel García von Creciendo Unidos.

Nicht nur in Villa Javier werden die Leute verdrängt, sondern auch in anderen Stadt­teilen der Metropole. So pendelt José David Acero zwischen verschiedenen Markt­fle­cken in der Hauptstadt, um dem Zwist mit der Polizei aus dem Weg zu gehen. Seit seinem fünften Lebensjahr arbeitet der schmäch­ti­ge 21jährige auf dem Markt. »Immer wieder werden wir von der Polizei aus dem Zentrum der Stadt vertrieben, oft mit Gewalt«, klagt der junge Mann mit der hellblauen Baseballkappe. Im Zentrum rund um die Plaza Bolívar laufen die Ge­schäfte jedoch am besten. Doch da traut sich José David kaum mehr hin, und den Platz des 20. Juli hat eine ganze Reihe von Marktfrauen mittlerwei­le verlassen.

Sie haben aus den Polizeieinsätzen die Konsequenzen gezogen und sind mit ihren Ständen auf den Covabasto, einen kleinen privaten Markt­platz, umgezogen. Zu ihnen gehört auch die 19jäh­­­rige Aleja González, die nach drei Jahren Schikane der Plaza de 20. de Julio den Rücken kehrte. Mit dem neuen Marktplatz ist sie recht zufrieden, obwohl hier eine Standgebühr fällig wird. »Dafür hat die Polizei hier keine Handhabe«, sagt sie zufrieden. Sie hat Angst vor den Beamten, die einer Cousine den Stand schlossen und sie verprügelten. Mit einem Beinbruch musste die 16jährige ins Krankenhaus.

Ein wesentlicher Grund, weshalb Aleja nun am Covabasto steht. Dort können Fredy und Lady González ihren Eltern beziehungsweise ihrer Groß­mutter ungehindert beim Verkauf der frischen Ware helfen. Allerdings nicht täglich, denn beide Kinder gehen in die Schule, und am Samstag ist der Nachmittag frei zum Spielen. Regelmäßig kommen Salomón und die 20jährige Sozialarbeite­rin Lina Martínez dann vorbei. Heute ist eine gan­ze Gruppe zugegen, die fröhlich am Basteln ist. Dabei wird auch immer wieder über die Rechte der Kinder gesprochen, denn »wer die eigenen Rechte kennt, kann sich viel besser verteidigen«, erklärt Lina.

Sie hat früher selbst Süßigkeiten auf der Straße verkauft und dann mithilfe der Organisation Cresciendo Unidos die Straßenarbeit aufgegeben. Mitt­lerweile studiert sie Soziologe an der Universität von Bogotá und hilft den Kindern, sich zu verteidigen – nicht nur gegen die Polizisten, sondern auch gegen die eigenen Eltern. »Angesichts der finanziellen Nöte vergessen die oft, dass sie ihren Kindern auch eine Zukunft ermöglichen sollen, denn die Arbeit auf der Straße hat doch kaum eine Perspektive.« Cres­ciendo Unidos verfügt über eine Suppenküche und eine Schule, die Organisation bietet auch Kurse für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus Villa Javier und den angrenzenden Stadtvierteln an.

Viele Menschen aus den angrenzenden Stadtteilen, den so genannten Barrios de invasión, deren Häuser am Berg liegen, haben sich kaum in Bogotá orientiert. Sie kommen oftmals aus anderen Landesteilen und sind vor dem Bürgerkrieg nach Bogotá geflüchtet. »Vorwiegend Frauen und Kinder sind es«, sagt Reinel García von Cre­scien­do Unidos, »und die haben kaum Chancen, in Bogotá Arbeit zu finden.« Auch ein Grund, weshalb viele Mütter die ältesten Kinder auf die Straße schicken, um zum Familieneinkommen beizutragen. »Ein Kreislauf, der nicht mit Verboten aufzubrechen ist«, ergänzt der Kollege Solomón.