Lektüre für ­Rotweintrinker

Die Blätter werden 50

Die Sechzig hätte man dem Blatt, das sich Blätter nennt, auch abgenommen. Aber 50 Jahre alt werden die Blätter für deutsche und internationale Politik in diesem November erst, und das stellt für die »führende politisch-wissenschaftliche Monatszeitschrift«, wie sie sich selbst bezeichnet, schon eine Aneinanderreihung von Kraftakten dar, die man ihr nicht ansieht. Bieder präsentiert finden sich Kommentare und wissenschaftliche Aufsätze, die meist auf hohem Niveau eine möglichst große Bandbreite an Themen behandeln. Beispiele der letzten Ausgaben: ­Karin Priester analysiert den modernen Populismus als »dritten Weg«, der von rechts beschritten wird; Walther Müller-Jentsch erörtert, ob die gegenwärtige Formation des Kapitalismus erstmals in seiner Geschichte ohne Gewerkschaften auskommt, und Redakteur Albrecht von Lucke vergleicht die Diskussion um die Mitgliedschaft von Günter Grass in der Waffen-SS mit dem neuen Selbstlob des deutschen Bürgertums, es habe ja nichts mit dem unfeinen Nazipöbel zu schaffen gehabt.

Das sind Texte, deren Lektüre auch dann lohnt, wenn man ihren Thesen nicht zustimmt, und wegen denen der Kauf der Blätter auch dann sinnvoll ist, wenn man von anderen Beiträgen – z.B. »Was heute links ist« von Erhard Eppler oder »Die Vernunft des Papstes« – eher abgeschreckt ist. Dass sich theologische Er­örterungen über den Papst und Bekenntnis­aufsätze pfäffischer Sozialdemokraten in einem als links geltenden Organ finden, verweist auf die Geschichte der Blätter.

Gegründet wurden sie 1956 von zwei Konservativen und einem Kommunisten, und die Verhinderung der Atombewaffnung und die Befürwortung der Wiedervereinigung waren anfangs die zentralen Themen der Blätter. Mit dem aus dieser Zeit stammenden Lob des Theologen Karl Barth, der meinte, die Blätter seien »eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn«, wirbt der Verlag bis heute. Die Zeitschrift ging bald im Kölner Pahl-Rugenstein-Verlag auf, gerne auch als »Pahl-Rubelstein« verspottet. Anfang der achtziger Jahre notierte das evangelische Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt, in den Blättern werde »die Logistik der Friedensbewegung bereitgestellt«. 1989 ging der Pahl-Rugenstein-Verlag bankrott, kurz zuvor war sein Finanzier, die DDR, pleite gegangen. Die Redakteure sicherten sich die Abokartei und machten sich selbständig.

Dem alten Herausgeberkreis, dem Kämpen wie der Marburger Faschismusforscher Reinhard Kühnl oder der Bremer DKP-Ökonom Jörg Huffschmid angehörten, wurden nun neue, andere, offenere Wissenschaftler zugesellt: Jürgen Habermas, Dan Diner, Micha Brumlik, Jens Reich etc. Am Profil wurde auch durch das Ausrufen des Demokratiepreises der Blätter gearbeitet, der alle drei Jahre vergeben wird. Im Jahr 1997 erhielt ihn beispielsweise der US-amerikanische Historiker Daniel J. Gold­hagen.

Ein Bruch findet sich in den 50 Jahren Geschichte der Blätter dennoch nicht. Sie waren immer auch das Organ älterer und (mitunter) liberal gewordener Linker, bei denen nicht selten eine unangenehme Selbstgefälligkeit zu beobachten ist: Wir sind die Gebildeten, die immer auf der richtigen Seite stehen, die Baskenmützenträger, die Rotwein trinken und mit bedeutungsvoller Miene Böll oder Tucholsky zitieren.

Das klingt abfällig, soll aber den Wert der monatlichen Publikation nicht schmälern. Es gibt keine Ausgabe der Blätter, in der nicht mindestens ein, manchmal drei oder vier lesenswerte Beiträge stünden. Darauf kann man ja auch mal ein Glas Rotwein trinken.

martin krauss