Über Istanbul

Orhan Pamuks Essayband »Istanbul« schildert ein Stück der Geschichte dieser Metropole. Und er gibt die Erinnerung an die Stadt den Istanbulern zurück. von deniz yücel

Was Paris für das 19. Jahrhundert war, New York für das 20. und Shanghai für das 21. Jahrhundert werden könnte, war für neun Jahrhunderte Konstantinopel: die glanzvolle ideelle Hauptstadt ihrer Zeit, die bedeutendste wirtschaftliche Metropole, in der Kunst, Architektur und Wissenschaften den Geist der Epoche ausdrückten und deren Reichtum und Pracht vom Rest der Welt bewundert und beneidet wurde. Selbst als das byzantinische Reich zu zerfallen begann, behielt Konstantinopel diesen Status, bis die Stadt im Jahr 1204 von venezianischen, französischen und flämischen Kreuzfahrern geplündert und verwüstetet wurde.

Wie das Paris des 19. Jahrhunderts mit London hatte auch das mittelalterliche Konstantinopel bedeutende Konkurrenz: Bag­dad. 54 Jahre nach dem Fall der größten Metropole der damaligen Welt fiel auch die zweitgrößte, die Hauptstadt des Abbasiden-Kalifats, blutrünstigen Invasoren in die Hände: den Mongolen. Nach diesen Ereignissen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verlor der Nahe Osten für immer seine einstige zivilisatorische Vormachtstellung.

Dennoch erlebte Konstantinopel nach der osmanischen Eroberung im Jahr 1453 eine neue Blüte. Die Osmanen versuchten, an die Leistungen früherer islamischer Reiche anzuknüpfen, die Stärke ihrer Armee ließ die Herrscher Europas vor Furcht zittern und ihr triumphaler Vormarsch, der sie bis vor die Tore Wiens führte, erweckte bei den Muslimen unweigerlich den Eindruck, die Sieger der Geschichte zu sein, weswegen man für die Christen Westeuropas nichts als Verachtung empfand.

Mysteriöser Okzident

In seinem Buch »Der Untergang des Morgenlandes« (im Original: »What went wrong?«) beschreibt der britische Historiker Bernard Lewis, wie die Muslime dieses Gefühl von Überlegenheit auch dann noch pflegten, als dafür keine reale Grundlage mehr vorhanden war. Eine der Folgen war, dass man sich lange überhaupt nicht für das Leben in Westeuropa interessierte. Während die Westeuropäer als Händler, Pilger und Kriegsgefangene, später auch als Fachleute und Reisende nach Istanbul kamen und zuhause ihre Erlebnisse und Beobachtungen schilderten, sahen die Muslime keine Veranlassung dafür, zu den Ungläubigen zu reisen. Anders als die westlichen Staaten verzichtete man lange darauf, dauerhafte Botschaften und Konsulate zu errichten.

Wie ungleich Interesse und Neugier auf beiden Seiten verteilt waren, zeigt sich auch darin, dass man an westeuropäischen Universitäten orientalische Sprachen studierte und man sich wissenschaftlich mit dem Orient befasste. »Der Okzident blieb mysteriöser als der Orient«, schreibt Lewis. Erst im 18. Jahrhundert, als die Schwäche der islamischen Armeen unübersehbar geworden war, kam der Gedanke auf, dass man von den Ungläubigen etwas lernen könne. Nun schickten die islamischen Herrscher Gesandte nach Europa, die das Geheimnis der neuen westeuropäischen Überlegenheit ergründen sollten (darin Borats »Kultureller Lernung von Amerika um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen« nicht unähnlich). Doch die Versuche, westliche Errungenschaften zu übernehmen, scheiterten kläglich, weil man nicht der gesellschaftlichen Umbrüche der Moderne gewahr wurde, sondern sich mit der Oberfläche der militärischen, technischen und wirtschaftlichen Neuerungen befasste.

Die europäischen Orientreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts kamen nicht mehr, um etwas zu lernen, sie interessierten sich für das Exotische, Fremde und Skurrile, für Paläste und Moscheen, die Janitscharen, die Sklavenmärkte, die Selbstkasteiung der Derwische und, natürlich das Lieblingsobjekt aller europäischen Phantasie: für den Harem.

Diese literarischen und wissenschaftlichen Schilderungen hat Edward Said später als »orientalistisch« kritisiert, weil sie wenig mit der Realität des Orients zu tun hätten und durch exotisierende und kulturalisierende Zuschreibungen die Kolonialisierung des Orients legitimiert hätten. Man kann sich dieser Kritik anschließen, auch wenn diese Schilderungen im Fall Istanbuls, das, wie die gesamte Türkei, niemals eine Kolonie war, ohne unmittelbare Folgen blieben. Doch drängen sich hierbei auch Fragen auf, die Said ausspart, die zu stellen aber davor bewahren kann, in simplifizierender Weise allein den Europäern die Schuld für die Unterentwicklung der islamischen Welt zu geben: Warum finden sich keine okzidentalistischen Erzählungen über Europa in der Literatur der islamischen Welt? Und warum überließen die Muslime die Darstellung ihres Lebens und ihrer Städte lange Zeit den Europäern?

»Das eigentlich Bittere an den von den westlichen Reisenden über Istanbul verfassten Schriften ist«, schreibt Orhan Pamuk in »Istanbul«, seinem teils autobiografischen und soeben auf Deutsch erschienenen Essayband, »dass vieles von dem, was diese Autoren an Istanbuler Besonderheiten rühmend herausstellten, schon bald darauf getilgt wurde. Denn was jene gerne als exotisch, da unwestlich beschreiben, ist der Europäisierungsbewegung, die die Stadt in den Griff bekommen möchte, ein Dorn im Auge, und bestimmte Traditionen und Institutionen werden nach und nach beseitigt.« Das gelte für die genannten Erscheinungen aus der osmanischen Zeit, aber ebenso »für die noch zu Zeiten der Republik von Touristen bewunderten Lastenträger und alten amerikanischen Straßenkreuzer«.

Melancholische Stadt

Erst nach der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 begannen Istanbuler Literaten und Journalisten, sich ihrer Stadt und dem Leben in ihr anzunehmen. Zum fotografischen Biografen Istanbuls wurde der 1928 geborene türkisch-armenische Fotograf Ara Güler, der in den fünfziger Jahren für türkische und ausländische Zeitungen zu arbeiten begann und den das britische »Photography Annual« bereits im Jahr 1961 zu einem der sieben besten lebenden Fotografen der Welt zählte. In seinen Fotos kann man den Wandel der Stadt innerhalb der vergangenen 50 Jahre beobachten, die kemalistische Modernisierung, aber auch die Türkisierung der Stadt und den Verlust des einstigen kosmopolitischen Charakters infolge von Aussiedlungen und Pogromen. Die Bilder fangen die Melancholie ein, die vom Leben inmitten der Trümmer des untergegangenen osmanischen Reiches ausgeht, den Zauber, den der Bosporus verbreitet (Istanbul ist bekanntlich die einzige Stadt der Welt, durch die ein Meer fließt), aber auch den Alltag der Menschen, die Orte, in denen sie leben und arbeiten.

Einige der besten Fotos von Güler, die das Leben der Istanbuler zeigen, kann man in dem kürzlich auf Türkisch neu verlegten Band »Al iste Istanbul« sehen, der Reportagen enthält, die Güler Ende der Sechziger gemeinsam mit dem Journalisten Çetin Altan in der Tageszeitung Aksam veröffentlichte. Auch Pamuk hat sich für »Istanbul« aus dem umfangreichen Archiv Gülers bedient; die meisten der Fotos, die »Istanbul« enthält, stammen aus diesem. Doch Pamuk hat eher menschenleere, schöne, aber einsame Motive ausgesucht, um sein Thema, das melancholische Hüzün-Gefühl, zu schildern. Das bedeutendste an diesem leisen, traurigen Buch ist, dass es den Istanbulern die Erinnerung an ihre Stadt gibt und die oft kitschigen, manchmal gehässigen, vor allem aber von außen verfassten Beschreibungen der Stadt, die Gustave Flaubert, André Gide oder Mark Twain geliefert haben, endgültig ins Reich der Geschichte und der Phantasie verbannt.

Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser 2006, 432 S., 24,90 Euro