Woher kommt dieses breite Grinsen?

Wer ist die »digitale Bohème«? Bietet sie eine Antwort auf die vergebliche Suche nach einem unbefriedigenden Brotjob? Oder ist sie nur die Avantgarde einer völligen Ökonomisierung aller Lebensbereiche? Darüber sprach deniz yücel mit zwei Mitherausgebern der Jungle World, holm friebe und anton landgraf

Holm, du sagst mit deinem Mitautoren den festen Beschäftigungsverhältnissen den Kampf an. Was habt ihr gegen sie?

Holm Friebe: Das System der Festanstellung ist dysfunktional. Obwohl das gesamte Bildungssystem darauf ausgerichtet ist, dass alle eine Festanstellung bekommen, gelingt das immer weniger Leuten. Ebenso wenig funktioniert das System für diejenigen, die drin sind. Sie arbeiten in einer extrem entfremdeten Form, die heute nicht mehr nötig wäre.

Darum empfehlt ihr die Selbständigkeit.

Friebe: Weil wir diese Zurichtung von jungen, klugen Menschen ablehnen. Den Leuten wird gesagt, der einzige Weg sei die Qualifizierung – wobei das nur bedeutet, Einträge im Lebenslauf zu generieren. Das ist das Schicksal der »Generation Praktikum«: Weil alle besser qualifiziert sind, reicht es wieder nicht für alle. Wir haben auf unserer Lesetour Studenten getroffen, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie nebenher php programmieren lernen und deshalb ihr Jurastudium vernachlässigen. Ich halte es für einen Akt der Aufklärung, diesen jungen Menschen, die ohne Ende Praktika machen und damit volkswirtschaftlich notwendige Arbeit leisten, aber darum erst recht nicht eingestellt werden, die besser qualifiziert sind als die, die schon drin sind, und die deshalb als Bedrohung wahrgenommen werden, eine Alternative aufzuzeigen.

Anton Landgraf: So dichotom, wie du die Verhältnisse darstellst – hier die formalisierte Ausbildung, die geradewegs ins Angestelltendasein führt, dort der Ausbruch und die Selbstgestaltung –, sind die Dinge inzwischen nicht mehr. Wer in seinem Lebenslauf nicht ein paar Brüche aufweisen kann, wer nicht einmal etwas Ausgeflipptes oder Abwegiges gemacht hat, gilt als langweilig. Ihr verweist in eurem Buch auf diesen Versuch der Universität Erlangen, bei dem 100 fiktive Bewerbungen mit idealen Biographien verschickt wurden. Gerade einmal vier Firmen reagierten mit einer Einladung zu einem Bewerbungsgespräch. Im Handwerk mag das anders sein, aber im akademischen Milieu, über das ihr schreibt, verlaufen die Karrieren nicht mehr so geradlinig. Trotzdem ist dort die Arbeitslosenquote viel geringer als unter den Niedrigqualifizierten.

Friebe: Dennoch werden die Leute im Studium dazu angehalten, sich noch mehr aufzuhalsen und bloß nichts zu tun, was sie nicht in einen Lebenslauf schreiben können, den sie einem Personalchef zeigen müssen. Wenn ich aber den Personalchef im Kopf abschaffe und mir klar mache, dass ich vielleicht nie wieder in einem Bewerbungsgespräch sitzen werde, kann ich entspannter darüber nachdenken, was ich wirklich tun möchte.

Sind das nicht recht privilegierte Sorgen?

Friebe: Ja, aber es sind die Sorgen vieler unglücklicher Menschen. Natürlich gibt es andere gesellschaftliche Gruppen, um die man sich noch viel mehr sorgen muss, nur tun wir das nicht in diesem Buch.

Ihr wollt die »digitale Bohème« nicht erst ins Leben rufen, sondern findet sie bereits vor. Trotz dieser Zurichtungen stellt ihr fest, dass sich immer mehr Leute von der Festanstellung abwenden. Ihr erkennt darin einen emanzipatorischen Schritt. Zugleich wachsen die Unterschiede zwischen Reich und Arm. Wie passen Emanzipation und Verelendung zusammen?

Friebe: Beides existiert nebeneinander. Und die Leute, die sich emanzipieren, sind andere als jene, die nicht mehr gebraucht werden und bei denen man von Massenelend reden kann. Das alles unter dem Begriff »Unterschicht« zusammenzufassen, halte ich für falsch. Es gibt Milieus, die sich vielleicht im Hinblick auf die sozioökonomischen Daten ähneln, die aber völlig verschiedene Mindsets haben. Auf der einen Seite sind es die, denen jede Perspektive fehlt – wobei ich hier genau hingucken würde, ob die Kinder vielleicht anfangen, Spiele zu programmieren, während ihre Eltern vor dem Fernseher sitzen. Auf der anderen Seite sind es jene, die aus freien Stücken sagen: Ich muss mir diesen Wahnsinn der Festanstellung nicht antun, ich bringe Voraussetzungen mit, die es mir erlauben, zusammen mit Freunden etwas Sinnvolles zu produzieren und mich davon sogar zu ernähren. Vielleicht lebe ich dann auf einem bescheideneren Niveau, kann aber meine Zeit frei einteilen und genieße eine größere Lebensqualität. An dieser Stelle sprechen wir ziemlich vollmundig von Emanzipation.

Landgraf: Den Angestellten, der kündigt und sein eigenes Unternehmen gründet, gab es schon immer. Ihr geht weiter und empfehlt, aus Hobbys und Vorlieben eine Erwerbsquelle zu erschließen. Aber nur die wenigsten, die dies im Internet oder im Kulturbereich versuchen, können sich damit hinreichend finanzieren. Von 1 000 Leuten schafft es vielleicht einer, und der wird als Ideal vorgestellt, während das deprimierende Dasein der anderen ausgeblendet wird.

Friebe: Dass wir gegen die Festanstellung wettern, heißt nicht, dass wir dem Einzelkämpfertum das Wort reden. Im Gegenteil, im Begriff der Bohème steckt für uns, dass man eine informell verfasste, aber feste Gruppenstruktur entwickelt, mit der man über einen längeren Zeitraum verbindlich zusammenarbeitet und dadurch auch die eigene Verhandlungsmacht stärkt. Die Jungle World ist ein Beispiel dafür, und von solchen Beispielen gibt es eine ganze Menge. Die Produktionsmittel werden billiger, und durch die Dynamik des Web 2.0 werden neue Verwertungsmöglichkeiten erschlossen.

Landgraf: Mich erinnert das an die Alternativbewegung der siebziger Jahre, als Leute ebenfalls versuchten, ein selbstbestimmtes Arbeiten zu organisieren und für eine größere Autonomie niedrigere Einkommen in Kauf nahmen. Von diesen alternativen Betrieben ging ein bedeutender Modernisierungsimpuls aus, denn irgendwann merkten die Konzerne, dass Mitarbeiter, die sich selbst motivieren, wesentlich effektiver arbeiten als welche, die man antreiben muss. Man hat einerseits Prinzipien wie »flache Hierarchien« und lean management übernommen, andererseits hat man immer mehr Tätigkeiten und die damit verbundenen Investitionsrisiken auf Subunternehmen ausgelagert. Die Frage ist also, ob das, was du für einen Gegenentwurf hältst, nichts weiter ist als der nächste Modernisierungsschritt.

Friebe: Mich überzeugt dieser Vorwurf an die Gegenkultur nicht, weil mir ein humanisierter, modernisierter Kapitalismus immer noch lieber ist als der alte Backstein-Kapitalismus. Auch wenn die digitale Bohème einen Vorläufer in der Alternativkultur hat, gibt es Unterschiede: Die Leute versuchen nicht mehr, in einem überschaubaren Rahmen eine Gegenökonomie aufzubauen. Es gibt Schnittstellen zum Kapitalismus, weil die Konzerne auf viele Dinge angewiesen sind, die in diesen Bereichen produziert werden. Das sind Produkte, die Konzerne nur schlecht herstellen können, weil sie ein gewisses hedonistisches und respektloses Selbstverständnis benötigen. Die hat die Bohème im Angebot und lässt sie sich teuer bezahlen.

Euch geht es doch nicht nur um Unternehmensberatung für Existenzgründer?

Friebe: Nein, ich glaube, dass von der digitalen Bohème auch eine subversive Wirkung ausgeht. Selbst wenn nicht alles eitel Sonnenschein ist, sind die Leute zufriedener. Und dadurch, dass es einem sichtlich besser geht, provoziert man jene, die noch in den Konzernen sitzen und im Rattenrennen mitmachen. Man bringt sie dazu, dass sie sich fragen: Woher kommt dieses breite Grinsen?

Landgraf: Du zeichnest wieder ein dichotomes Bild: Auf der einen Seite die armen Angestellten, die ihre Nine-to-five-Jobs machen, auf der anderen Seite die fröhliche Bohème, die auf der Wiese sitzt und dort ihren Geschäften nachgeht. Dabei haben sich die Managementmethoden fast überall geändert. Luc Boltanski und Eve Chiapello beschreiben in ihrem Buch »Der neue Geist des Kapitalismus«, wie die Kritik an der entfremdeten Arbeit in Unternehmensstrategien integriert wurde und dass die Leute durchaus das Gefühl empfinden, selbstbestimmt zu arbeiten …

Friebe: … halt! Die Humanisierung der Arbeitsbedingungen und die Identifikation mit der Firma sollte man nicht zusammenwerfen. Humanere Arbeitsbedingungen sind besser als inhumane. Ansonsten gilt, was René Pollesch als Titel eines Theaterstücks verwendet hat: »Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat«. Die Mechanismen der Industriegesellschaft bleiben auch dann bestehen, wenn im Büro ein Kicker steht, die Kaffeemaschine durch einen Latte-Macchiato-Spender ausgetauscht wird und selbstbestimmte Arbeitsformen simuliert werden. Aber die Leute sind nicht doof, es gibt Umfragen, die zeigen, dass 70 Prozent der Angestellten das Spiel durchschauen. Sie spielen nur mit, weil sie keine Alternativen sehen.

Ganz erfolglos scheint die Strategie, die Mitarbeiter zur Identifikation mit der Firma zu bringen, nicht zu sein, wenn man bedenkt, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad sinkt und etwa die IT-Branche ohne jede Interessenvertretung auskommt.

Landgraf: Aber noch düsterer wird es, wenn man sich die prekär Beschäftigten anschaut. In dem Moment, wo man aus dem Lohnarbeitsverhältnis herausgeht, gibt es keine Form der organisierten Interessenvertretung, jeder ist seines Glückes eigener Schmied. Holms Modell hört sich so lange schön an, wie alles gut geht. Aber was passiert, wenn es, wie nicht selten, nicht gut geht? Dann gibt es nichts, nur den freien Fall. Ihr propagiert ein Leitbild, das auf die Risiken und Nebenwirkungen, die in ihm enthalten sind, nicht eingeht. So sind die Netzwerke, von denen du sprichst, nicht solidarisch, außer dass man sich ein wenig aushilft, solange es einem selbst gut geht. Denn Leute, die die gleichen Dienste anbieten, sind Konkurrenten.

Ein Gegenbeispiel wären die französischen Kulturprekären, die die Umstände, in denen sie arbeiten, in Frage stellen, ohne ihre Arbeit aufzugeben. Immerhin versuchen sie, kollektive Forderungen zu formulieren. Davon findet sich bei euch nichts. Stattdessen propagiert ihr ein Leitbild, das auf den ersten Blick verlockend aussehen mag: Ausbruch aus der entfremdeten Lohnarbeit, fließende Übergänge zwischen Arbeit, Freizeit und Selbstverwirklichung. Aber die traditionelle Lohnarbeit verschwindet tendenziell sowieso, stattdessen entsteht eine neue Arbeitsorganisation, die es dem Einzelnen erlaubt, sich selbständig zu machen. Sogar dann, wenn man einigermaßen verdient, bleiben diese Beschäftigungsverhältnisse völlig ungeschützt. Das gilt für die gebildete Mittelschicht, von der ihr hauptsächlich sprecht, und erst für recht unqualifizierte Tätigkeiten als Tagelöhner, Leiharbeiter oder Heimarbeiter.

Friebe: Die mangelnde Organisation ist in der Tat eine Schwachstelle, die wir auch benennen. Der Individualismus und das Misstrauen gegenüber Gewerkschaften und überhaupt allen größeren Kollektiven stehen bislang einer Interessenvertretung im Weg. Aber das ist keine Schwachstelle des Modells, sondern eine der Akteure. Dabei hätten die prekären Freiberufler allen Grund, sich zu organisieren: Die Sozialsysteme sind noch immer auf die alten Anstellungsverhältnisse fixiert, während Freiberufler nur als Zahnärzte und Rechtsanwälte gedacht werden, denen man ihre soziale Absicherung selbst aufbürden kann. An dieser Stelle muss der Staat eingreifen. Wir sagen: Es muss starke staatliche Institutionen geben, die die soziale Absicherung oder die Bildung gewährleisten. Dafür braucht es eine höhere Steuerprogression und einen höheren Spitzensteuersatz. Auch müssten Einrichtung wie die Künstlersozialkasse ausgedehnt werden.

Landgraf: Warum organisiert sich diese prekäre Intelligenz, auf die vor ein paar Jahren Toni Negri oder Karl Heinz Roth Hoffnungen gesetzt haben, denn nicht? Der Versuch der prekären Intelligenz, übergreifende Interessen zu formulieren, scheitert daran, dass sie hochgradig individualisiert ist. Sie ist eine flüchtige Angelegenheit. Arbeiter konnten sich in der Fabrik organisieren, soziale Bewegungen in besetzten Häusern. Der Bohème bleibt das Hotspot-Café.

Friebe: Bestimmte Verständigungen laufen übers Netz oder könnten darüber laufen. Aber das ersetzt natürlich keine verfasste Interessenvertretung. Also vielleicht doch die Gewerkschaften, die an diesem Punkt schon gute Arbeit leisten …

Ob bei Herbert Marcuse oder Guy Debord, die Kritik an der gespaltenen Zeit war in der Hochzeit des Fordismus ein beliebtes Thema der Neuen Linken. Anton, was hast du dagegen, wenn Holm Konsequenzen aus dieser Kritik zieht?

Landgraf: Es geht nicht darum, die fordistischen Verhältnisse hochzuhalten. Aber die Frage ist, ob Holms Modell unter den gegebenen Umständen nicht zu einer völligen Entgrenzung führt. Denn hier greift Arbeit auf das gesamte Leben über, alles ist Arbeit, alles ist Freizeit. In meiner Nachbarschaft ist ein Café, das nachmittags voll mit Leuten ist, die auf ihre Laptops tippen. Geredet wird nicht viel, ab und zu bestellt jemand einen Latte Macchiato, ansonsten herrscht Arbeitsatmosphäre – und das an einem Ort, der dazu gedacht war, sich mit Freunden zu treffen oder in Ruhe Zeitung zu lesen. Günther Voß spricht in diesem Zusammenhang vom »Arbeitskraftunternehmer«, der sich durch drei Dinge auszeichnet: Selbstmarketing, Selbstmanagement und Verbetrieblichung der Lebensführung. Der Betrieb wird in den Kopf verlagert, und alle Lebensbereiche werden ökonomisiert. Das gilt auch für soziale Kontakte, die Holm so wichtig sind: Wann ist ein Gespräch in der Kneipe freundschaftlich, wann dient es dem Geschäft? Sitzt man seinem Freund gegenüber oder dem potenziellen Konkurrenten? Diese Entgrenzung führt dazu, dass die Behauptung von Emanzipation sich in ihr Gegenteil verkehrt: zu einer höheren Stufe der Entfremdung.

Friebe: Ich finde es okay, wenn Arbeit und Freizeit zwanglos ineinander übergehen. Diese Habermas’sche Trennung zwischen Lebenswelt und Systemwelt kann mir gestohlen bleiben. Und die Systemwelt greift auch bei den Angestellten in die Lebenswelt über, wenn etwa die Arbeitszeiten entgrenzt werden und eine starke Identifikation mit der Firma verlangt wird. Meiner Erfahrung nach können die Leute, von denen wir schreiben, diese Dinge besser ausbalancieren als die anderen, die zielstrebig ihre Karrieren verfolgen und alle sozialen Beziehungen auf ihre Nützlichkeit abklopfen. Die digitale Bohème dagegen sagt nach dem dritten Bier meistens: So, jetzt lass uns mal nicht mehr von der Arbeit reden!

Landgraf: Was hat das mit Selbstbestimmung zu tun? Wenn du eine Sache nicht länger um ihrer selbst willen machst, sondern dich dadurch zu finanzieren versuchst, begibst du dich in ökonomische Zwänge. Warum formulierst du nicht eine Perspektive wie die »Glücklichen Arbeitslosen«, die sagen: Wir machen unser Ding, weil es uns Spaß macht, und fordern von der Gesellschaft, dass sie, wenn es schon keine Arbeit für alle gibt, uns subventioniert.

Friebe: Ich finde es richtig, die Existenzsicherung von der Tätigkeit zu entkoppeln und über ein Grundeinkommen zu reden, wobei man darauf achten muss, dass dies nicht zu einem Mittel wird, mit dem sich die Unternehmer endgültig aus der Verantwortung für die Sozialsysteme stehlen. Aber dass die Arbeit auf die Freizeit übergreift, ist nur dann eine Horrorvorstellung, wenn ich unter Arbeit nur den entbehrungsreichen, fremdbestimmten Teil meines Tages sehe, der leider notwendig ist, damit ich in meiner Freizeit all das machen kann, worauf ich wirklich Lust habe. Aber wenn man einen anderen Arbeitsbegriff zugrunde legt, verliert diese Entgrenzung ihren Schrecken. Es ist nicht das schlechteste Ideal, eines Tages dahin kommen zu wollen, dass man aus voller Überzeugung sagen kann: Das und das tue ich, und ich tue es gerne. Wahrscheinlich können nicht alle einen solchen Weg gehen, viele dürften sich gegen mehr Freiheit und für mehr Sicherheit entscheiden – oder besser: für die Hoffnung auf Sicherheit. Aber vielen kommen solche Optionen erst gar nicht in den Sinn.

Gibt es nicht auch andere Hindernisse? Zum Beispiel, dass die Volkswirtschaft nur eine begrenzte Zahl von Webdesignern brauchen kann?

Friebe: Natürlich braucht niemand noch mehr und noch mehr Webdesigner. Aber vor 100 Jahren, als ein großer Teil der Bevölkerung noch in der Landwirtschaft und in der Industrie tätig war, hätte man es sich nicht vorstellen können, dass der Anteil des Dienstleistungssektors einmal so hoch sein könnte, wie er heute ist. Dieser Anteil nimmt zu, die kulturelle Konsumtion nimmt zu, und irgendjemand muss diese Produkte herstellen. Das machen nicht nur große Firmen, sondern zunehmend auch viele kleine Produzenten. Vielleicht wird Webdesign nicht mehr so sehr gebraucht werden, aber dafür etwas anderes, das danach kommt.

Landgraf: Der Apple-Gründer Steve Jobs erzählt auch bei jeder Gelegenheit, wie er sein eigenes Ding gemacht hat, wie er sich durchgebissen hat. Das ist der klassische bürgerliche Traum …

Friebe: … und der amerikanische Traum, richtig reich zu werden. Aber darum geht es uns nicht, wir reden nicht von Businessplänen.

Landgraf: … die hatte Jobs auch nicht.

Holm, was unterscheidet eure Hoffnungen auf das Web 2.0 vom Optimismus der New Economy?

Friebe: In der New Economy haben nur die Firmen, ihre Angehörigen und Aktionäre Geld verdient, das hauptsächlich aus Börsenspekulationen stammte. Das Web 2.0 verschafft auch dem einfachen Nutzer Verdienstmöglichkeiten. Wenn zum Beispiel jemand in einem Multiplayer-Onlinespiel wie »Second Life« etwas produziert, ein Outfit oder eine Frisur , wofür andere aus freien Stücken bezahlen, leistet er eine wertschöpfende Arbeit. Solche Tätigkeiten sind natürlich voraussetzungsreich. Aber ich denke, dass sie sich auch auf das Heer der Überflüssigen auswirken; dass Leute entdecken, dass sie zuhause mit dem Rechner tätig sein und Anschluss an einen Markt finden können.

Deshalb werden bei euch auch die Verkäufer bei E-Bay in die »digitale Bohème« eingemeindet.

Friebe: Weil es uns um etwas anderes geht als um Entrepreneurship, das die Industrie- und Handelskammer propagiert. Das ist dann vielleicht nicht mehr Bohème, aber es hat durchaus Auswirkungen auf die zukünftige Arbeitsgesellschaft. Wenn man sieht, aus welchen Orten die »Power-Seller« bei E-Bay kommen und wie es um ihre Rechtschreibung bestellt ist, kann man sich gut vorstellen, wie jemand damit anfing, den Bauernhof seines Nachbarn zu entrümpeln und die Sachen über E-Bay zu verkaufen. Jetzt macht er dies vielleicht für das ganze Dorf. Auch wenn diese privaten Verkäufe in keiner volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auftauchen, führen sie zu einer besseren Allokation der Ressourcen, was sie ökologisch und ökonomisch interessant macht. Manche verdienen ein Zubrot, andere genug, um ihre Existenz zu bestreiten. Diese »E-Bay-Brasilianisierung« zeigt, dass das Internet Möglichkeit für neue Erwerbsformen bereithält.

Kann eine Volkswirtschaft nur dadurch funktionieren, dass wir uns gegenseitig unseren alten Plunder verkaufen? Und was unterscheidet die privaten Verkäufer bei E-Bay von den Leuten, die auf Flohmärkten ihren alten Hausrat verkaufen?

Friebe: Das ist ein großer Unterschied. Die herkömmlichen Flohmärkte sind dysfunktional, sie gründen darauf, dass zufälligerweise jemand vorbei kommt, der genau das braucht, was ich anbiete. E-Bay ist funktional, weil Nischenangebote und Nischennachfragen zusammenfinden. Darauf lässt sich ein Geschäftsmodell gründen. Und diese Nischen werden wichtiger, weil die Nadelöhre und Schlüssellöcher des Vertriebs wegfallen und auch die Produktion kleinteiliger wird.

Landgraf: Was ist die wertschaffende Basis des Ganzen? Es wird nichts Neues produziert, sondern Altes neu gehandelt. Dass immer mehr Menschen versuchen, in der Zirkulationssphäre ein Auskommen zu finden, liegt am Rückgang der Industriearbeit. Der Begriff Brasilianisierung ist nicht falsch, aber die Aussicht auf brasilianische Verhältnisse ist alles andere als schön.

Friebe: Wo Arbeitsteilung stattfindet, findet Wertschöpfung statt, auch wenn das Bruttosozialprodukt noch immer auf die industrielle Produktion fixiert ist. Der Wohlstand einer Gesellschaft steigt doch auch dadurch, wenn Sachen nicht auf einem Dachboden verstauben, sondern die Allokation so organisiert ist, dass diese Dinge von jemand anderem benutzt werden. Die Überlegungen des Club of Rome über die »Grenzen des Wachstums« gehen in die gleiche Richtung. Nur werden ökologische Fragen nur selten zusammen mit der Entwicklung der Arbeitsgesellschaft verhandelt. Ich sage ja nicht, dass E-Bay alle Probleme löst und alle Arbeitslosen zu »Power-Sellern« umgeschult werden sollen. Aber ohne E-Bay würde es vielen Leuten noch bedeutend schlechter gehen.

Holm Friebe und Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, Heyne 2006, 303 S., 17,95 Euro