Der Faktor Bauchgefühl

Wahlen in Holland von antoine verbij, amsterdam

Da staunte die Runde. Als die Parteiführer kurz nach Mitternacht im Fernsehen über die Wahlergebnisse diskutierten, sagte Wouter Bos, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei (PvdA), die als größte Verliererin der niederländischen Parlamentswahl feststand, der große Gewinner, Jan Marijnissen, von der Sozialistischen Partei (SP), solle unbedingt an den kommenden Koalitionsverhandlungen beteiligt werden. Noch nie waren die ehemaligen Maoisten von den Sozialdemokraten als seriöse politische Partner angesehen worden. In der Vergangenheit gab es kaum Berührung zwischen den beiden Parteien.

Kaum jemand kann sich in Holland vorstellen, dass die von Marijnissen ebenso autoritär wie erfolgreich geführte SP bald mitregieren wird. Zumal sich rein rechnerisch ohne die größte Partei, die christdemokratische CDA des amtierenden Premierministers Jan-Peter Balkenende, keine Koalition bilden lässt. Die einzige Mehrheitskoalition ohne die SP wäre eine große Koalition von Christ- und Sozialdemokraten, ergänzt von Christen Unie, einer kleinen, christlich-sozialen Partei von bibel­treuen Christen, die die Anzahl ihrer Mandate von drei auf sechs verdoppelte.

Wie gelang es der SP, ihre Fraktion im Parla­ment von neun auf 26 Mandate aufzustocken und somit die drittgrößte Partei Hollands zu werden? Dieser in der Geschichte beispiellose Sieg lässt sich nicht nur mit den schlechten Ergebnissen der Sozialdemokraten erklären, denn diese verloren elf Mandate, während die SP 17 Mandate dazugewann.

Erklären lässt sich der Sieg der Sozialisten durch einen Faktor, der in den vergangenen Jahren in der Politik europäischer Länder immer stärker geworden ist: den Populismus. Oft sind es rechte Politiker, die mit chauvinistischen, ausländerfeindlichen Parolen, die den »kleinen Mann« ansprechen sollen, in den Wahlkampf ziehen. In den vergangenen Jahren hat nicht nur die Geschichte Hollands deutlich gezeigt, dass mediengewandte Politiker, die das »Bauchgefühl« der Leute ansprechen, kein ausschließlich rechtes Phänomen mehr sind.

Schon Pim Fortuyn, dem im Jahr 2002 eine Wahlüberraschung gelang und der von vielen Beobachtern als »rechtsextrem« beschrieben wurde, warb mit einem politischen Programm, das zahlreiche liberale und soziale Elemente enthielt. Es gab damals viele Wähler, die bis zum Wahltag zögerten, ob sie For­tuyn oder Marijnissen ihre Stimmen geben sollten.

Im Jahr 2002 erreichte die Liste Pim Fortuyn (LPF) 26 Mandate, Marijnissens SP lediglich neun. Bei der Parlamentswahl der vergangenen Woche kehrte sich dieses Verhältnis um: Die Sozialisten erreichten 26 Mandate und eine der Nachfolgeparteien der LPF, die Liste Geert Wilders, kam auf neun. Das ist erstaunlich. Wilders’ Programm ist im Unterschied zu dem von Fortuyn wirklich rechts. Es enthält nur drei Punkte: Neben Steuersenkungen und der Bekämpfung des »islamischen Tsu­nami« fordert es auch »mehr Anstand«. Das Wort fatsoen hat Tradition im moralisch-politischen Diskurs in Holland und bedeutet eine Mischung aus Höflichkeit, Gesetzestreue und Sauberkeit. Marijnissens Programm ist dagegen so links wie das der deutschen Linkspartei, vielleicht sogar noch ausgeprägter in seiner Ablehnung der EU und in seinem Anti­ameri­kanismus.

Was Wilders und Marijnissen verbindet, ist eine engstirnige nationale Orientierung. Es geht ihnen angeblich darum, die Interessen »der kleinen Leute« gegen die abgehobenen politische Eliten und ihre internationalen Verbündeten durchzusetzen. Der Politiker, der dabei das größte Charisma vorweisen kann, gewinnt. Diesmal war es Jan Marijnissen.