Der Frühling ist vorbei

Die Krise im Libanon von markus bickel, beirut

Saad Hariri brauchte nicht lange, um den Schul­­digen zu benennen. »Wir glauben, dass Syrien überall seine Finger im Spiel hat«, sagte der Führer der libanesischen Parlamentsmehrheit, keine drei Minuten nachdem der katholisch-maronitische Industrieminister Pierre Gemayel in der vergangenen Woche auf offener Straße von bislang unbekannten Tätern erschossen worden war. Ein knappes Jahr nach der Ermor­dung des Publizisten und Parlamentariers Gib­ran Tueni setzt sich die Serie politischer Atten­tate, die den Libanon seit dem Oktober 2004 erschüttert, somit fort.

Was die bislang sechs prominenten Opfer, darunter Saads Vater, der langjährige Premier­minister Rafik Hariri, einte, war ihre Abneigung gegen die einstige syrische Protektorats­macht. Grund genug, auch für diesen Mord das Regime von Präsident Bashar al-Assad ver­antwortlich zu machen. Obwohl kriminologische Beweise fehlten, strömten wie in den Wochen nach dem Mord an Hariri am Donnerstag der vergangenen Woche Hunderttausende auf den Märtyrerplatz im Zentrum Beiruts, um gegen die syrische Einmischung in die Geschicke des Libanon zu demonstrieren.

Doch mehr als ein billiger Abklatsch der größ­ten antisyrischen Demonstration des »Bei­ruter Frühlings« am 14. März 2005 war die Kundgebung in der libanesischen Hauptstadt nicht. Zu offensichtlich ist das macht­politische Bestreben der Führungsfiguren der seit dem Krieg zwischen der Hizbollah und Israel in die Defensive geratenen Kräfte des »14. März«, der »Partei Gottes« die politische Initiative zu entreißen. Eigentlich wollte die von Generalsekretär Hassan Nasrallah geführte schiitische Parteimiliz Hizbollah gemeinsam mit ihren prosyrischen Verbündeten bereits in der vergangenen Woche auf die Straße gehen. Nach dem Mord an Gemayel wird sie nun wohl in dieser Woche versuchen, durch Massendemonstrationen den Sturz der von Premierminister Fuad Siniora, Hariris langjährigem Verbündeten, geführten Regierung herbeizuführen.

Die Opposition im Parlament, die wegen ihres Bündnisses mit Michel Aoun, dem katholisch-maronitischen Vorsitzenden der Freien Patriotischen Bewegung (FPM), über einen starken christlichen Verbündeten verfügt, ver­weist darauf, dass es der Regierung seit dem Rückzug sechs prosyrischer Minister aus dem Kabinett vor zwei Wochen an Legitimität man­gelt. Die Rückkehr des im Februar zurückgetretenen antisyrischen Innenministers Hassan Sabaa an den Kabinettstisch am Wochenende dürfte die verfassungsrechtlichen Zweifel an Entscheidungen der Exekutive nicht gerade verringern. Hinzu kommt, dass die größte Bevölkerungsgruppe, die Schiiten, nicht mehr in der Regierung vertreten ist.

Mit der Bildung einer »Regierung der na­tionalen Einheit«, wie noch vor dem Mord an Gemayel gefordert, werden sich Nasrallah und Aoun nach der antisyrischen Großkundgebung kaum begnügen. Wahrscheinlicher erscheinen Monate politischer Lähmung, so wie Anfang des Jahres, als die Minister der Hiz­bollah schon einmal den Kabinettssitzungen fernblieben. Streitpunkt war damals wie heute die Entscheidung über die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Aufklärung des Mordes an Hariri und der anderen politischen Morde.

Siniora bot seinen Kontrahenten am Samstag an, die Entscheidung über das Tribunal zu verschieben, wenn sie den »aufrichtigen Willen« zu Verhandlungen zeigten. Doch mög­licherweise ist das Attentat auf Gemayel der Beginn einer zweiten Anschlagsserie. Dann könnten weder bewaffnete Auseinandersetzungen unter den Christen noch Scharmützel zwischen pro- und antisyrischen Gruppen ausgeschlossen werden.