Neues von damals

Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath hat ein anspielungsreiches und komplexes Alterswerk publiziert. von jan süselbeck

Zu viele Menschen in muffigen Räumen bedrücken mich. Ich bin von Natur aus ein Einzelgänger und singe nicht gern im Chor«, schreibt Lesche, der Erzähler in Edgar Hilsenraths Spätwerk »Berlin … Endstation«.

Nach Jahrzehnten im US-Exil ins Land seiner ehemaligen Verfolger und noch dazu in die deutsche Hauptstadt zurückgekehrt, glaubt der Holocaust-Überlebende nur noch an sich selbst: »Als Schriftsteller mache ich überhaupt keine Kompromisse, und ich habe auch in keinem meiner Bücher irgendwelche Zugeständnisse an Dritte gemacht, weder aus finanziellen, ideologischen noch politischen Gründen.«

»Armes Deutschland«, sagt Lesche an einer anderen Stelle, »du hast viel verdrängt und hast Probleme mit deiner Verdauung. Man ist besorgt und fürchtet deine Blähungen. Kein Wunder. Aus deiner Verstopfung krabbelt schon wieder der alte Ungeist, salonfähig verpackt, und wittert Morgenlicht.« Das mag bauchig formuliert sein, aber am Ende des neuen Romans steht, wie als grausige Wahrheit dieser Behauptung, der Mord, den junge Neonazis an Lesche begehen: »Schließlich haben die Enkel der alten Nazis vollbracht«, bemerkt seine trauernde ehemalige Geliebte auf der letzten Seite des Buchs, »was den alten Nazis nie gelungen ist.«

Hilsenrath ist nicht Lesche – auch wenn die Schauplätze, Personen und Bücher im Roman leicht mit der Biografie des Autors in Verbindung zu bringen sind. Eine Aufzählung dieser Konvergenzen ist müßig. Nur so viel: Auch Hilsenrath entschied sich 1975, nach Deutschland zu re-immigrieren, weil er als Schriftsteller die deutsche Sprache brauchte. »Ich hätte schon viel früher gehen sollen. Ich vermisste die deutsche Sprache«, kommentierte er seine Rückkehr einmal.»Ich muss sie hören, immer und überall«, sagt nun seine Figur Lesche über die deutsche Sprache.

Der Protagonist seines neuen Romans wandert in ein Westberlin vor dem Mauerfall ein, in dem sich Literaten, Künstler und Verleger noch in 68er-Kneipen wie dem »Zwiebelfisch« am Savignyplatz treffen. Schon vorher hat Lesche in New York davon gelesen, »dass die Deutschen in der Hauptstadt ein Holocaust-Mahnmal errichten wollen«. Sein Gesprächspartner im Emigrantencafé in der 86. Straße, Ecke Broadway, ergänzt: »Das ist ein schlechter Witz.« Denn: »Wozu brauchen die Deutschen ein Mahnmal? Ganz Deutschland ist ein Holocaust-Mahnmal.«

Hier vermischen sich die Zeiten. Denn als Hilsenrath aus Amerika zurückkehrte, war noch lange nicht von dem 2005 in Berlin eröffneten »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« die Rede. In gewohnt lakonischer Manier, die man schon aus Romanen wie »Nacht« (1964), »Der Nazi & der Friseur« (1977) oder auch »Bronskys Geständnis« (1981) kennt, erzählt uns Hilsenrath eine Westberliner Story der besonderen Art – ein uneindeutig datiertes Zeitbild, irgendwo zwischen den siebziger, achtziger und neunziger Jahren changierend, bis hinein ins neue Jahrtausend.

Auch die für Hilsenrath typische Prise Sexismus fehlt nicht. Lesche vögelt mun­ter in der Gegend herum, schwängert eine Minderjährige, schläft auch mit der Mutter, peitscht in New York eine masochistische Ex-Freundin aus, damit sie endlich mal einen Orgasmus bekommt, und verliebt sich schließlich in eine junge Armenierin. »Ein Leben lang waren Frauen nur Sexobjekte für ihn«, heißt es an der Stelle beiläufig. »Anahid war die erste, für die er etwas empfand.«

Bevor Lesche drei beinahe tödliche Schlaganfälle erleidet, gibt er sich viril, bestellt Bier und Buletten und witzelt nach dem Fall der Mauer über die »Ossis«, die den Westen für eine »Bananenrepublik« hielten. Den unverwechselbaren Sound, in dem Hilsenrath seine gut abgelauschten Alltagsdialoge präsentiert, hat der Literaturwissenschaftler Martin A. Hainz einmal so charakterisiert: »Das Moralische dieser Ästhetik ist ihre Akribie, mit der der Autor aneckt, unschicklich ist, doch all diese pseudomoralischen Einwände auch sofort widerlegt und als ihrerseits nicht nur unbedarft, sondern auch ethisch degoutant demaskiert.«

Der neue Roman führt dieses Programm fort. Zunächst präsentiert er sich dem Leser als eine Aneinanderreihung burlesker Einfälle und knapper, launiger Dialoge, die einem vorkommen wie gute alte Bekannte. Vieles von dem, was Hilsenrath hier kompiliert hat, ist einem so oder ähnlich aus früheren Büchern vertraut.

Was er uns in diesem Roman präsentiert, ist aber doch viel mehr als eine bloße Neuanordnung bekannter Einfälle. »Die Medien versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen mit endlosen Berichten über den Naziterror und den Massenmord«, beobachtet Lesche ein Phänomen, das in unsere Tage gehört. »Es ist so, als wollten die Deutschen durch diese Erinnerungen und Bekenntnisse die Schuldlosigkeit ihrer Generation unter Beweis stellen«, meint er. Und als er seiner Armenierin im Flugzeug nach San Francisco die eigene Überlebensgeschichte erzählt, bemerkt er: »Ich könnte noch stundenlang vom Holocaust erzählen«, um sich dann aber lieber kurz zu fassen: »Wir überlebten diese höllische Zeit.«

Mit großem Understatement erinnert Hilsenrath hier daran, dass es darauf ankommt, wer von der Shoah erzählt und wie, und nicht auf die auftrumpfende Quantität emsig wiederholter Fakten.

Der Text erscheint als kaleidoskopisch arrangiertes Spiegelkabinett, in dem allerlei Episoden früherer Bücher als teils verzerrte, teils schärfer gestellte Bilder wiederkehren. In einer Rückblende, in der sich Lesche an seine jugendliche Flucht durch die von der SS durchkämmten Wälder Polens erinnert, wird der Junge von einer alten Bäuerin sexuell missbraucht – eine Szene, die wie eine Verkehrung einer Episode in »Der Nazi & der Friseur« wirkt, in der dem NS-Massenmörder Max Schulz bei der »Hexe« Veronja Ähnliches widerfährt.

Und eine Erinnerung Lesches an die Prügel und Misshandlungen durch Mitschüler, die er ähnlich wie Hilsenrath in seiner Jugend an der Schule in Halle an der Saale erlitt, führt zu einer viermaligen Wiederholung einer Racheszene, die dieses Modell fiktiver Mehrfachbelichtung einer Geschichte weiterführt. Lesche malt sich zunächst dreimal aus, wir er seinen ehemaligen Mitschüler Fritz Tischler aufsucht und kaltblütig ersticht, um ihm heimzuzahlen, dass dieser ihn damals als »Saujud« und »Itzig« beschimpfte und täglich quälte, ohne dass die nationalsozialistischen Lehrer einschritten.

In der vierten Variation dieser Revanchephantasie aber sucht Lesche den ehemaligen Nazischüler und nunmehr braven Friseur Tischler tatsächlich auf und hat am Ende gar keine Lust mehr, ihn umzubringen. Sein ehemaliger Peiniger zeigt Reue: »Ich fasse mich an den Kopf«, beteuert er, »wenn ich daran denke, wie blind ich damals war. Die Nazis waren Verbrecher, und ich habe viel wiedergutzumachen.« – »Als der Krieg aus war, war ich 16. War zuletzt noch Flakhelfer.« Und am Ende fügt er hinzu: »Ich bin heute Mitglied der SPD und unterstütze Amnesty International.«

Günter Grass lässt grüßen, Hilsenrath zieht mit solchen Szenen die so genannte Flakhelfergeneration von Joachim C. Fest bis Martin Walser gehörig durch den Kakao. Gleichzeitig nimmt sein Roman die mörderischen Taten der rechtsextremen Enkel der Täter schärfer in den Blick, als es ein umjubelter deutscher Autor jener Altersklasse seit 1990 getan hat.

Edgar Hilsenrath: Endstation … Berlin. Dittrich Verlag, Köln 2006. 192 S., 19,80 Euro