»Recht auf Hilfe«

sarah holewinksi von der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Civic über die Perspektiven der gesellschaftlichen Organisierung im Irak und die mangelhafte amerikanische Nachkriegspolitik
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Welche Ziele verfolgt Ihre Organisation im Irak?

Civic ist eine Kampagne für zivile Kriegsopfer. Wir setzen uns für Menschen ein, die von den US- und Koalitionstruppen verwundet oder geschädigt wurden. Wir wollen ihnen eine Stimme geben und die Hilfe, die ihnen zusteht. Wir setzen uns dafür ein, dass wir als Amerikaner unsere Verantwortung für eine Art von Entschädigung, von Kompensation wahrnehmen. Amerikanische Truppen versuchen sehr gewissenhaft, keine Zivilisten absichtlich zu töten. Aber in jedem Krieg gibt es Unfälle und Fehler. Im Irak wurden während des Krieges tausende Menschen unabsichtlich verwundet oder getötet, diese Menschen bzw. die Angehörigen haben ein Recht auf Hilfe.

Wie definieren Sie Kriegsopfer? Sind das Menschen, die direkt von US- oder Koalitionstruppen geschädigt wurden, oder zählen Sie auch die Opfer des täglichen Terrors in den Straßen dazu?

Wir denken, dass jeder einzelne von ihnen ein Opfer des Krieges ist. Aber Civic versucht vor allem, jenen zu helfen, die von den US- und Koalitionstruppen verletzt oder geschädigt wurden. Wir wollen, dass die Nationen, die am Krieg beteiligt waren, sich jetzt auch um die Betroffenen kümmern.

Im Moment werden Iraker fast ausschließlich Opfer von Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen, schiitischen und anderen Gruppen. Gibt es für diese Opfer auch eine Lobby?

Wir wünschen uns sehr, dass alle am Krieg beteiligten Nationen auch für sie Verantwortung übernehmen. Aber das ist sehr schwierig. Bezüglich ziviler Opfer der eigenen Armee gibt es ein internationales Recht, das eine direkte Verantwortung von kriegführenden Nationen festschreibt. Für Opfer eines Bürgerkriegs oder der Gewalt in der Folge eines Kriegs ist das nicht so. Dabei müsste es im Interesse aller sein, auch diesen Opfern zu helfen, denn wenn wir es nicht tun, dann machen es andere, wie in Afghanistan die Taliban oder im Libanon die Hizbollah. Es müsste im Sinne einer Demokratisierung doch darum gehen, die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen. Darin sind Amerika und Europa nicht besonders gut.

Sehen Sie eine sich entwickelnde Zivilgesellschaft im Irak?

Das ist die entscheidende Frage. Und die Antworten darauf sind sehr enttäuschend. Die Gewalt ist so bestimmend, dass es für jeden Iraker äußerst gefährlich ist, Teil der Zivilgesellschaft zu sein. Die Lehrer sind Ziel der Gewalt, die Ärzte und Anwälte haben das Land verlassen. Die Menschen kommen auf sozialer Ebene gar nicht mehr zusammen. Demokratie und eine stabile Regierung, wie wir sie erhoffen, sind im Moment unmöglich. Ich will nicht ausschließen, dass man nicht vielleicht in zehn oder auch dreißig Jahren auf den Irak blicken wird und eine großartige Entwicklung wird feststellen können. Jede Demokratie, die sich gebildet hat, hatte eine blutige Zeit am Anfang ihrer Geschichte. Aber jetzt im Moment gibt es keinerlei demokratische Strukturen. Es existiert nicht nur keine Zivilgesellschaft, sondern nicht einmal eine soziale Nachbarschaft.

Was war Ihrer Meinung nach folgenreicher für die gegenwärtige Situation, ein misslungener Krieg oder eine verfehlte Nachkriegspolitik?

Unsere Organisation hat sich nicht dazu positioniert, ob es richtig war, den Krieg zu führen oder nicht. Aber wenn man einen Krieg plant, dann muss man auch darüber nachdenken, wie man die Bevölkerung schützen kann und wie man ihr nachher zu helfen gedenkt. Das alles sollte man bedenken, bevor man seine Truppen losschickt.

Das hat die US-Regierung nicht getan?

Auf jeden Fall hat sie die Chance, die irakische Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen, vertan. Wenn man es nicht schafft, die Bevölkerung zu gewinnen, kann man seine Ziele nicht durchsetzen. Es wurde viel zu wenig darüber nachgedacht, wie man den Wiederaufbau gestalten will und wie man die Zivilbevölkerung vor der Gewalt schützen kann.

Was fordern Sie konkret von der US-­Regierung hinsichtlich des Wiederaufbaus?

Vor allem vermissen wir besser ausgestattete Programme, die nicht nur den Wiederaufbau von Infrastruktur, von Schulen und Straßen beinhalten. Wir brauchen direkte Hilfen für Familien, die den Vater verloren haben, der für den Unterhalt gesorgt hat. Und wir brauchen Programme, die es Gemeinschaften ermöglichen, zusammenzukommen, sich zu treffen, um sich zu organisieren. Wir brauchen eine Basisorganisierung im Irak, es kann nicht alles von der Regierung oder den USA kommen.

Woran fehlt es am nötigsten?

Als erstes die medizinische Versorgung. Das Gesundheitssystem ist völlig zusammengebrochen. Fast alle Ärzte haben das Land verlassen. Es gibt keine intakten Krankenhäuser, und es sind auch keine internationalen Hilfsorganisationen bereit, an Ort und Stelle Hilfe zu leisten, weil es zu gefährlich ist. Sehr viele Verletzte müssen sterben, weil es keine medizinische Versorgung gibt. Irak hatte vor der Invasion ein gutes Gesundheitssystem. Nicht perfekt, aber ziemlich gut, mit gut ausgebildeten Ärzten. Aber ich kann verstehen, dass sie fliehen, wenn sie Angst haben müssen, entführt oder umgebracht zu werden. Wir versuchen im Moment, irakische Kinder, die verwundet werden, ins Ausland fliegen zu lassen, in die USA oder nach Jordanien. Da wächst eine ganze Generation heran mit fehlenden Armen oder Beinen, erblindet oder mit anderen schweren Verletzungen, von denen sie sich niemals erholen werden, wenn man sie nicht behandelt.

Ein anderes schwerwiegendes Problem ist, dass das Bildungssystem zusammengebrochen ist. Kinder haben Angst, zur Schule zu gehen, Lehrer müssen fürchten, entführt und getötet zu werden. Aber wenn wir jemals eine Demokratie im Irak erleben wollen, dann müssen die Menschen die Möglichkeit haben, sich zu bilden, sonst werden sie weder einen Job bekommen noch die Gesellschaft mitgestalten können.

Was denken Sie, sollten die US-Truppen tun? Abziehen?

Es gibt im Moment keine wirklich guten Perspektiven für den Irak. Aber was mich beunruhigt: Wenn wir alle Truppen abziehen, wird die irakische Bevölkerung ohne jede Hilfe, ohne jeden Schutz zurückgelassen. Das wäre auch eine Flucht vor der Verantwortung. Die Menschen haben keinen Strom, kein Essen, keiner unterstützt sie dabei, Geschäfte aufzubauen, gesellschaftliche Strukturen zu formen. Wenn wir abziehen, dann haben sie absolut gar nichts mehr. Wir reden mit unseren Politikern, mit anderen Nationen, auch mit der Uno, damit, wenn die US-Truppen tatsächlich abziehen, die Unterstützung weitergeht und vor allem auch wesentlich aufgestockt wird.

Die Zukunft des Irak könnte möglicherweise eine sehr föderale sein, mit weitgehend autonomen Regionen. Wie beurteilen sie diese Perspektive im Hinblick auf die Lebenssituation der Zivilbevölkerung?

Ich kann verstehen, dass manche nun so denken. Jeder möchte, dass die Gewalt endlich aufhört, all das Töten, und zwar nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich. Kurzfristig kann ich mir vorstellen, dass eine Föderalisierung der Zivilbevölkerung helfen würde, weil es die Basisorganisierung, die Selbsthilfe befördern könnte. Schiiten helfen Schiiten, Sunniten helfen Sunniten, Kurden helfen Kurden – das könnte mehr Vertrauen in die eigene gesellschaftliche Organisierung, mehr gegenseitige Solidarität befördern. Ob das langfristig eine gute Lösung wäre, steht auf einem anderen Blatt.

interview: ivo bozic