Schon wieder ein Einzelfall

Der Amoklauf von Emsdetten und seine öffentliche Bewältigung. von freerk huisken

Kaum in Emsdetten, war Barbara Sommer (CDU), die Schulministerin von Nordrhein-Westfalen, nur noch darum bemüht, ihren Verantwortungsbereich vor Vorwürfen zu schützen. Ein Einzelfall sei der Amoklauf von Emsdetten, von einem Einzeltäter verübt, der ein Einzelgänger war und schwer Kontakt zu anderen Menschen fand, meinte sie. Versagt hätten nicht die Schule und die Familie. Allenfalls sei eine »Kultur des Weghörens« verantwortlich zu machen. Versagt hätten »wir alle«, die »wir uns« nicht um ihn gekümmert hatten. Dabei sollte sich der Jugendliche am Tag nach dem Amoklauf wegen unerlaubten Waffenbesitzes vor Gericht verantworten – die zuständigen Kontrollorgane haben offensichtlich nicht weggesehen.

Sonderbar fanden ihn auch seine Mitschüler. »Ich suche Gott«, hat Sebastian R. ihnen auf ihre Fragen nach seinem Treiben geantwortet – den Religionslehrer hätte das wohl eher begeistert. Das Computerspiel Counterstrike hat auch er gespielt, wie der Robert Steinhäuser aus Erfurt. Und Waffen hat er gesammelt, die man, wer hätte das gedacht, über das Internet ganz einfach beziehen kann.

Damit ist auch dieser, wieder einmal völlig »unbegreifliche und sinnlose« Amoklauf, wie alle anderen vor ihm, einsortiert. Ein ziemlich durchgeknallter Typ, »innerlich zerrissen«, wie es allenthalben heißt, muss das gewesen sein. Wer begibt sich schon mit einer Pumpgun auf die Suche nach Gott? Verborgen hinter der Fassade des »lieben Jungen, der oft beim Grillen half«, muss er »sich und sein Leben gehasst« haben. Ein allgemeines Lamentieren hebt an, wohlfeile und mit Trauermiene verkündete Selbstbezichtigungen werden im Potentialis verkündet, die Debatte über das Verbot von »Killerspielen« ebenso aufgelegt wie die über die Verschärfung des Waffengesetzes. An der Schule muss sich natürlich auch dringend etwas ändern: z.B. braucht es mehr Schulpsychologen, Videoüberwachung, Anti-Aggressionstraining, Ganztagsschulen, kleinere Klassen, Waffenkontrolle usw. So geht es eine Zeit lang, die Entwicklung der Schule zum psychologisch betreuten Hochsicherheitstrakt macht wieder ein paar kleinere Fortschritte, dann legt sich die öffentliche Aufregung wieder. Bis zum nächsten Amoklauf, der dann auch wieder nur ein Einzelfall ist.

Dabei hat Sebastian R., der in »behüteten Verhältnissen« mit zwei jüngeren Geschwistern aufwuchs und nach der Absolvierung der Realschule einen Mini­job in einem Baumarkt hatte, in seinem Ab­schieds­brief – er gilt der Bild-Zeitung als »wirr« – die Gründe für seinen Rachefeldzug in aller Deutlichkeit dargelegt: »Man hat mir gesagt ich muss zur Schule gehen, um für mein leben zu lernen, um später ein schönes Leben führen zu können. (…) Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, das ich ein Verlierer bin (…) habe danach gestrebt Freunde zu bekommen, die dich nicht als Person, sondern als Statussymbol sehen. (…) Eine Welt, in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten und die richtigen ›Freunde‹. Hat man eines davon nicht, ist man es nicht wert beachtet zu werden (…) Ich habe mir Rache geschworen (…) Die Menschen, die sich auf der Schule befinden, sind in keinem Fall unschuldig. Niemand ist das. Ein Großteil meiner Rache wird sich auf das Lehrpersonal richten.«

Als »wirr« gilt also ein Schüler, wenn er die Verlogenheit der Schulideologien anprangert, die seit Generationen allen Schülern eingetrichtert werden. Denn das ist einfach nicht normal, wenn man die eigene Erfahrung mit der staatlichen Sortieranstalt Schule an der Aussage misst, dass es jedermann in der Hand habe, sich vermittels der Schule seinen Wunsch vom »schönen Leben« zu erfüllen. Es verhält sich nun einmal so, dass Schule massenhaft Verlierer produziert, die sich glücklich schätzen dürfen, wenigstens noch einen Minijob im Baumarkt zu erhalten. Und wer zudem die Erfahrung gemacht hat, dass Mitschüler das Sortieren auf ihre Art mit Hänseln, Treten und Schlagen fortsetzen, der hat dann ziemlich gute Gründe, der Schule – und den »Menschen, die sich auf der Schule befinden« – wenig freundliche Gefühle entgegenzubringen.

Auf Sebastian R. traf das zu. Dumm nur, dass er der verhassten Schule das Urteil abgenommen hat, dass ausgegrenzte, aussortierte, gemobbte Schüler Verlierer sind. Der ebenso falschen wie gemeinen Logik, die die Werke der Schule dem Schüler anlastet, der dann eben ein – vielleicht sogar geborener – Versager ist, hat er einerseits Glauben geschenkt. Andererseits war es seine feste Überzeugung, dass die Schule in ihm den Falschen erwischt hat. »Ich bin kein Versager, ich bin göttlich«, sagte er schließlich in seinem Abschiedsvideo. Und exakt das wollte er dann allen beweisen: Wenn ich mir schon nicht mit Geld, Handys und Klamotten jene Anerkennung verschaffen kann, die mir zusteht, lautete seine Devise, dann muss ich eben den Menschen der Schule auf andere Weise zeigen, dass ich kein Versager bin.

Und er hat sich als Demonstrationsmittel die brutalste Form von Überlegenheits­beweisen ausgewählt, die es gibt: Ich bin der Herr über euer Leben und euren Tod. Das ist natürlich für die öffentliche Betroffenheitsgemeinde erst recht verrückt. Denn diese Macht steht allein dem Staat zu, der darf Leute in den Krieg schicken, Leute wegsperren, sie im Notfall erschießen und überdies für eine Arbeits- und Umwelt sorgen, die gerade nur so viel jährlich sterben lässt, wie das Marktwirtschaft und Demokratie vertragen.

Eine »negative Anerkennungsbilanz« habe der ehemalige Realschüler für sich erstellt, verkündet der Jugendgewaltforscher Wilhelm Heitmeyer. Das findet er gar nicht in Ordnung. Gegen »Anerkennungsbilanzen« hat er also nichts. Sie müssen nur positiv ausfallen. Schüler, die in der Schule erfahren, dass ihnen nur noch die Aussicht auf Hartz IV offen steht, sollen wenigstens mit einer positiven »Anerkennungsbilanz« die Schule verlassen. Dann haben sie, wenn schon keine vernünftige Lebensperspektive, wenigstens einen ausgeglichenen Seelenhaushalt und halten, so die Erwartung, Frieden.

Dass sich auch Sebastian R. mit der Negativbilanz nicht abgefunden hat, sondern an einer positiven Bilanz bis hin zum ziemlich unfriedlichen Amoklauf gearbeitet hat, begreifen die Gewaltforscher nicht. Dabei passt das Treiben des Jungen gut zur Logik der Anerkennung: Wer dem Anerkennungswahn verfallen ist, wer also das Urteil über den Selbstwert der eigenen Person vollständig davon abhängig macht, wie viel Wertschätzung ihm andere entgegenbringen, wer folglich sein Leben unter den Imperativ gestellt hat, ein be- und geliebter, zumindest aber als Winner anerkannter Typ zu sein, wo er schon in den wirklich wichtigen Lebensbereichen nichts mehr zu erwarten hat (»Was soll das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputtmaloche, um mit 65 in den Ruhestand zu gehen und fünf Jahre später abzukratzen?«), der hält es schwer aus, wenn ihm solche Bestätigung nicht entgegengebracht wird.

Die Schlussfolgerung, dann eben mit Gewalt zu erzwingen, was seine Umgebung ihm aus freien Stücken nicht gewährt, ist auch nicht allein in seinem Kopf geboren. So etwas kennt man, und zwar nicht allein aus historischen Szenarien, in denen der König jedem den Kopf abschlug, der es an Respekt und Anerkennung ihm gegenüber fehlen ließ. (Wenngleich heute in dieser Hinsicht im gesamten öffentlichen Leben die Köpfe mehr bildlich rollen.)

Mit der Rache ist dann die Anerkennungsbilanz wieder positiv, und für Sebastian R. hat sich sein Leben erfüllt. Seine Ehre ist mit Tod und Leid wieder hergestellt. Er ist gestorben auf einem Feld der Ehre, das er sich selbst und ganz für sich ausgesucht hat. Was natürlich schon wieder ein Zeichen von Verwirrtheit ist. Denn das Feld der Ehre bekommt man zugewiesen und man stirbt auf ihm fürs Vaterland und nicht für sich.