Als alles möglich schien

platte buch

Dem abgeklärten linken Zeitgenossen gilt »1968« als List der kapitalistischen Vernunft, die sich einiger unzufriedener Studenten bediente, um ihre verknöcherte Gestalt einer Verjüngungskur zu unterziehen. Bestätigung findet diese Sicht in den gealterten Akteuren der Bewegung, die als Kronzeugen gegen ihre eigene Vergangenheit aussagen, Widerlegung in René Viénets glänzendem Bericht über den Mai 1968 in Frankreich. In diesem wird insbesondere die Rolle der Situationisten bei der Radikalisierung der Bewegung gebührend gewürdigt.

Der wilde Generalstreik von zehn Millionen Lohnabhängigen, den die zunächst unbedeutende Studentenbambule auslöste, beförderte ins Bewusstsein, was der Vollzug des Alltagslebens der Verdrängung überantwortet – die Einsicht in die Erbärmlichkeit der eigenen Existenz in der Warengesellschaft. Viénet schildert einen Ausnahmezustand, in dem für kurze Zeit alles möglich schien, Arbeiter ihre Fabriken besetzten, junge Ärzte das Gesundheitswesen einer vernichtenden Kritik unterzogen und Werbetexter sich selbst abschaffen wollten.

Dass die Bewegung an der Schwelle zur sozialen Revolution kollabierte, nach und nach auf die Kompromissangebote von Stalinisten und Gewerkschaften einging, führt der Situationist Viénet, der im Pariser »Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen« aktiv war, auf den »Rückstand des theoretischen Bewusstseins« zurück. Es reichte zum spontanen Aufbegehren, aber nicht zur Macht der Räte.

Das scharfsinnigste Zeugnis über eine der wenigen revolutionären Krisen der jüngeren Geschichte, 1968 verfasst und lange Zeit vergriffen, liegt nun als günstiger Raubdruck vor. Obendrein ist es reichhaltig illustriert und enthält im Anhang aufschlussreiche Dokumente der Bewegung.

felix baum

René Viénet, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen. Berlin 2006, Paperback, 176 S., 4 Euro. Bezug über www.klassenlos.tk