»London war schrecklich«

tony parsons war während der Punkexplosion in England Starautor beim New Musical Express. Mit »Als wir unsterblich waren« hat er einen Roman über diese Zeit geschrieben. Teil 1 eines ­zweiteiligen Gesprächs mit ihm über das Buch und das England der siebziger Jahre

In Ihrem autobiographisch gefärbten Punk­roman »Als wir unsterblich waren« zeichnen Sie ein Bild von England im Jahr 1977 als krisengeschütteltem Land, das tief in einer wirtschaftlichen Rezession steckt. Die Engländer wirken wie die Verlierer des Zweiten Weltkriegs, obwohl die Elterngeneration erfolgreich gegen die Nazis gekämpft hatte. Ähnliches berichtete auch Jon Savage, der wie Sie damals für eine Musikzeitschrift tätig war, in seiner Punk-Historie »England’s Dreaming«.

Ja, England 1977: eine düstere Geschichte. Und ich denke, genau diese Trostlosigkeit löste damals erst die Explosion großartiger Punkmusik aus. Im ganzen Land wurde gestreikt, die politische Mitte war zusammengebrochen, es gab ultrarechte und linke Sekten und politische Streetgangs, die sich auf den Straßen gewaltsam Gehör verschafften. Besonders bedrohlich war der virulente Rassismus, ein gewalttätiger Rassismus. 1977 lag das weiße, homogene Großbritannien in seinen letzten Zügen, und es bäumte sich nochmals auf. Heute kommt mir England dagegen wie ein ganz anderes Land vor. Und man hört auch schon lange nicht mehr diese trotzige Bemerkung: »Wer hat denn nun den verdammten Krieg gewonnen?« (»Who won the bloody war anyway?«) Damals kriegte man das oft zu hören, weil die Stimmung im Land auf dem Tiefpunkt war.

Jon Savage und ich sind beide Kinder der sechziger Jahre, als es besonders glorios gewesen sein soll, wenn man jung und Eng­länder war. 1966 gewann England die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land, die Beatlemania hielt die Welt in Atem. Je näher die siebziger Jahre kamen, desto mehr geriet die alte Ord­nung ins Wanken. Weder die Beatles noch die Stones noch sonst irgend­jemand sprach 1970 zu uns. Was Unterhaltung anging, waren wir komplett auf uns selbst gestellt, und wir mussten uns eine eigene Form von Entertainment erst schaffen, was wir dann auch gemacht haben.

Auch der Rock’n’Roll befand sich Mitte der Siebziger in einer ernsten Legitimationskrise. Die großen Plattenfirmen hatten das Ansehen von Zuhälterkartellen, riesige Stadionkonzerte waren en vogue, was zur Bezeichnung »Arenarock« führte. Aber alte Fürze aus den Sechzigern waren 1975 gesättigt und aufgeschwemmt von den vielen Drogen.

Das einschneidendste Erlebnis war für mich 1974 ein Konzert von David Bowie, auf dem ich zusammen mit meiner ersten Freundin war. Zu unserem Leidwesen sah der »Thin White Duke« damals schon ein wenig verbraucht aus. Auch die Konzert­at­mosphäre kam mir reichlich abgeschmackt vor. Ständig gab es im Publikum Schlägereien, von denen auch die friedlich Tanzenden in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ich empfand das als Verfälschung des Pop-Ethos, mit dem wir alle groß wurden, wonach Pop befreiend sein und erhabene Kräfte haben sollte, die zu mehr Solidarität untereinander führen würden und die Gemeinschaft stärken sollten. Dieses korrupte Bowie-Konzert war aber genau das Gegenteil davon.

Damals wussten wir noch nicht, dass er sich in jener Nacht die Nase blutig gekokst hatte, er kam von einer langen US-Tournee zurück nach England und war runter mit den Nerven. Ich hatte jedenfalls genug von seinen Starallüren und war enttäuscht darüber, dass er unfähig war, auch nur irgendein Versprechen von Pop einzulösen.

Solche Erlebnisse wollte ich dann nach Möglichkeit vermeiden und gab Pop zu jenem Zeitpunkt verloren. Heute erzählen sich die Leute Schauermärchen über die ach so furchtbaren Progrockbands, wie Yes oder E.L.O., die Mitte der Siebziger mit ihrem Gegniedel gelangweilt hätten. Viel schlimmer war es aber, wenn »ein Guter« wie Bowie für die Fans verloren ging.

Als Reaktion hörte ich 1975/76 dann nur noch Funk und ging tanzen. In die frühen Gigs von den Sex Pistols, The Clash und The Damned bin ich eher durch Zufall geraten. Aber es war mir sofort klar, dass das für die Zukunft des Pop wegweisend sein würde, da die Punks sich dem ursprüng­lichen Rock’n’Roll zuwandten und den alten Krach neu belebten. Die ersten Punkkonzerte in London und auch die ersten England-Auftritte der amerikanischen Bands gingen stilistisch völlig durchein­ander, ganz anders, als das im Nachhinein dargestellt wurde. Es gab so un­terschiedliche Künstler wie die Talking Heads, Elvis Costello, Patti Smith, Tele­vision und Ian Dury.

Und was besonders schön daran war: Viele Musiker, die ein bisschen zu schüchtern und zu verschroben für den Rockmainstream der siebziger Jahre waren, trauten sich dank Punk auf die Bühne, weil da ein Loch in die Tür getreten worden war. Ich möchte die Zeit um 1976 aber auch nicht unnötig glorifizieren. London war ein schrecklicher Ort damals, nirgendwo wurde passabler Kaffee ausgeschenkt, die Dro­gen waren gestreckt, und die Kleidung, die es zu kaufen gab, war reiner Murks. Wenn etwas gut aussah, konnte man sich’s eh nicht leisten. Mehr als drei Millionen Menschen waren damals ohne Arbeit.

Hört sich ein bisschen nach Deutschland 2006 an.

Ja, ich sehe da durchaus Ähnlichkeiten. Damals kamen mir die Siebziger unendlich trostlos vor, und ich dachte, sie würden nie aufhören. Das ist wahr­scheinlich auch das generelle Elend, wenn man jung ist. Mit 20 dachte ich, hey, jetzt bin ich an der Reihe, Hedonis­mus: bitte kommen. Die Antwort laute­te unisono: »Tut mir Leid, Kumpel, nur für Stammgäste! Die Party ist schon seit zehn Jahren vorbei.« So erging es den meisten damals in London, und deshalb haben wir unsere eigene Party gestartet.

Woran denken Sie, wenn Sie die Worte »Gin« und »Ginfabrik« hören?

An eine gute Zeit. Ich habe gerne in der Ginfabrik gearbeitet. Meistens in der Nachtschicht ab sechs Uhr abends. Zum Schichtbeginn gab es einen Schluck aus der Pulle, oder wir mischten das Zeug mit Cola und O-Saft und gingen angeschickert an die Arbeit. Nachts ging es oft recht unzivilisiert zu, da arbeiten traditionell die Außenseiter. Ich mochte meine Kollegen, seltsame Nachtschattengewächse, einsame Vögel. Ich habe das aber auch nur mit ihnen ausgehalten, weil ich wusste, dass es sich zeitlich auf ein, zwei Jahre begrenzen würde. Zur Not konnte ich mich auf der Arbeit auch ganz gut in private Gedanken flüchten. 1975/76 war in London wenig los. Wenn ich um zwei Uhr nachts aus der Fabrik kam, war es schwie­rig, noch einen offenen Club zu finden. Aber ich sah zu jener Zeit auch einige Punkkonzer­te, kurz bevor ich dann mit dem Schreiben über Musik anfing.

Ein Ort, der in »Als wir unsterblich waren« eine Rolle spielt, ist der Club »Mecca«, den es wirklich gegeben hat. Heute genießt er einen ähnlichen Stellenwert wie die »Paradise ­Garage« in New York als früher Ort von Soul und Disco-Hedonismus und schwuler Subkultur. Wie war die Atmosphäre im »Mecca«?

Das »Mecca« war einer der Orte, an denen ich groß geworden bin. Und ich ging dahin wegen der Musik und den DJs. Ich komme eigentlich aus der Grafschaft Essex, was keine ausgemachte Rockgegend ist. In Essex hört man traditionell Soul und Funk, und jeden Freitag und Samstag fuhren wir deswegen nach London ins »Mecca« oder ins »Gold­mine«, um zu tanzen. Wir gingen auch wegen der Paarungsrituale dahin, entsprechend gewalttätig war die Atmosphäre. Ärger gab es schnell. Auch wenn man nichts Unrechtes getan hatte, bekam man leicht was auf die Mütze. Die Lads machten eine Menge Unsinn.

Sie porträtieren auch damalige Stars wie Siouxsie von Siouxsie & The Banshees in Ihrem Buch. Welche Rolle spielten Frauen im Punkrock?

Punk war die erste große Welle der Gleichberechtigung von Frauen in der Popmusik. Retro­spektiv finde ich, dass es nie wieder so viele Musikerinnen und aktive Frauen gegeben hat wie 1976/77. Es gab Journalistinnen, Fotografinnen, Künstlerinnen, viele Musikerinnen haben Bands gegründet, Siouxsie & The Ban­shees, The Slits fallen mir ein, bei denen hat eine Deutsche (Ari Up, J.W.) mitgespielt, oder The Raincoats.

Und Vivienne Westwood – die war damals erst 29 Jahre alt – führte die Boutique »Sex« in der Kings Road und schuf überhaupt die Punk­ästhetik, das vergisst man vielleicht, wenn wir sie heute bei offiziellen Anlässen als ehrwürdige Modedame mit aristokratischer Aura vor uns sehen. Erst wenige Jahre vor dem Punk haben Frauen in Eng­land überhaupt eigene Gewerkschaften gegründet, der Feminismus hatte seine erste Blütezeit. Während man in den Sechzi­gern noch davon träumen konnte, aus der Welt einen besseren Ort zu machen, ohne Frauen darin eine aktive Rolle zuzugestehen, war es Ende der Siebziger unmöglich, soziale Ungererechtigkeit zu bekämpfen und die Frauen davon auszuschließen. Klar, Rockmusik war 1976 immer noch Männersache, Ende der Sieb­ziger und durch Punk gab es aber mehr aktive Frauen als jemals zuvor.

Punk war eine Rebellion gegen etablierte Popstrukturen. Haben Sie als junger Musik­journalist gegen ältere Musikkritiker die Feder erhoben?

Na ja, genau wie die meisten Punkbands habe auch ich damals bei Null angefangen und mich entlang des Prinzips learning-by-doing weitergehangelt. Ich hatte noch sehr viel mit meinen bescheidenen Fähigkeiten als Autor zu kämpfen und versuchte immer wieder, sie zu überlisten. Ich war damals nicht so selbstsicher, dass ich gedacht hätte, ich könnte die Kunstform Popjournalismus neu erfinden. Jedenfalls nicht in der Radikalität, wie Steve Jones von den Sex Pistols mit seinen drei immer gleichen Akkorden gegen Eric Claptons Gitarrengedudel zu Felde zog.

Wir waren alle blutige Anfänger und hatten viel mit unseren eigenen Problemen zu tun. Meine großen Helden waren damals tatsächlich Popjournalisten. Ich vergötterte Nick Kent vom NME, wichtig für mich waren auch der amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe, Hunter S. Thompson natürlich, generell diese ganze Gonzo-Szene.

Jedenfalls war ich mir damals über die Kluft bewusst, die zwischen der Qualität dieser Autoren und der meiner eigenen Schreibe lag. Wenn ich daran denke, was ich über die Sex Pistols geschrieben habe oder über Bruce Springsteen, und das mit dem vergleiche, was Wolfe über Phil Spector, Muhammed Ali oder Hugh Hefner geschrieben hatte, war ich auf einem anderen Planeten. Wolfe war natürlich auch älter und entsprechend länger dabei, hatte gelernt, mit einer Stimme cooler Objektivität zu sprechen, was ich nicht konnte, weil ich mittendrin im Punk war. Das gab meinen Artikeln allerdings auch Kraft. Was die Leute interessierte, war, dass ich direkten Zugang zu vielen Musikern hatte. Ich war mit vielen Musikern jener Zeit befreundet, hing auch mit ihnen ab und reiste mit ihnen umher. In jeder Form von Journa­lismus, die Zugang hat, steckt Kraft. Was meinen Stil anging, stand ich damals erst ganz am Anfang. Man braucht lange, bis man Autor wird. Es dauert auch zehn Jahre, bis man Architekt wird; warum soll man schneller zum Autor reifen?

Wie unterscheidet sich der New ­Musical Express der mittleren siebziger Jahre, für den Sie geschrieben haben, vom fiktiven Musikmagazin The Paper aus Ihrem Roman?

Beim NME jener Jahre herrschte viel mehr Konkurrenzdruck. Wir waren damals auch nicht miteinander verbrüdert, wie ich es im Buch darstelle, jeder ging eigene Wege. Redaktionsintern gab es harte Auseinander­setzungen darüber, wer die Titelgeschichte einheimst, wer mit den Sex Pistols zusammen nach Stockholm auf Kon­zert­reise geschickt wird und wer nach Amerika fliegen darf, um Bruce Spring­steen zu interviewen. Da war viel Eifersucht mit im Spiel. In meinem Buch geht es mehr um Freundschaft.

»Als wir unsterblich waren« erzählt die ­Erlebnisse dreier Londoner Freunde, Terry, Leon und Ray, in einer Nacht. Welchen Klassenhintergrund haben die drei?

Terry ist ein typischer working class lad. Leon kommt aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht, sein Hintergrund ist privilegiert. Ray rangiert zwischen unterer Mittel­schicht und upper working class. Er ist Sohn eines Kolonialpolizisten, der in Hong Kong gearbeitet hat, sein Bruder starb als Soldat in Nordirland. Ray ist eine dieser verlore­nen Seelen des Empire, gefangen zwischen den Schichten.

Sie stammen aus der Unterschicht, anders als viele Ihrer Bekannten aus den Siebzigern haben Sie Karriere gemacht. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ich bin mit 16 von der Schule gegangen. Da­mals besuchte ich ein gutes Gymnasium, habe aber die schulische Ausbildung zum frühestmöglichen Zeitpunkt abgebrochen. Danach habe ich gejobbt, zum Beispiel in einer Ginfabrik. Diese Gelegentheitsjobs haben mich für die Ups und Downs meiner zukünftigen Karriere als Autor abgehärtet. Aber die lineare Karriere gibt es sowieso nicht. Um ehrlich zu sein, ich bin jetzt so weit gekommen, dass mein Klassenhintergrund nicht mehr zählt. Er ist mir jedenfalls nicht mehr bewusst. Als ich beim NME gearbeitet habe, war das noch anders. Damals fiel mir schon auf, dass alle anderen Redakteure auf der Universität gewesen waren und einen höheren Bildungs­standard hatten als ich. Seither ist viel Zeit vergangen. Heuer ist es 30 Jahre her, dass ich beim NME eingestiegen bin. Keine Ahnung, was aus den anderen inzwischen wurde. (Der Redakteur, der Tony Parsons und Julie Bur­chill seinerzeit zum NME holte, ist vor kurzem verstorben, J.W.)

Was ist das Hauptmotiv gewesen, »Als wir unsterblich waren« zu schreiben?

Meine Eltern haben in den fünfziger Jahren, als sie Teenager waren, sehr jung geheiratet. Sie wollten unbedingt Kinder haben, aber es klappte nicht. Eigentlich war die Geschichte abgehakt und sie planten einen Motorrad­trip nach Italien. Dann wurde meine Mutter doch schwanger. Ich bin das Kind, auf das meine Eltern zehn Jahre vergeblich gewartet hatten. Also nahm sich meine Mutter Zeit und las mir endlose Geschichten vor. Das ist der Grund für mein Buch. Ich wollte nie etwas anderes werden als Autor oder Geschichtenerzähler.

interview: julian weber

Der wöchentlich erscheinende New Musical Express (NME), gegründet 1952, kann als Großbritanniens wichtigste Popmusikzeitschrift gelten. Als eines der ersten Blätter berichtete der NME über das Phänomen Punk und trug so sowohl zu dessen Erfolg als auch zu dessen Ausverkauf bei.