Begraben sollt ihr sie nicht

Wenn es Beate Klarsfelds Ausstellung gelänge, den Bahnbetrieb zu stören, wäre sie ein Erfolg. von stefan ripplinger

Vor einigen Monaten besuchte ich einen Bekannten auf dem Friedhof. Auf seinem Urnengrab steht sein gerahmtes Foto. Links und rechts davon finden sich die Gräber und Porträts zweier schlan­ker Damen, die eine jung und hübsch, die andere alt und mondän. Da er im Leben eine große Schwäche für schlanke Frauen, ob jung oder alt, hatte, bildete ich mir ein, er werde sich auch im Tode nicht langweilen.

Mir fiel dieser Besuch wieder ein, als ich über die von Beate Klarsfeld und anderen organisierte Ausstellung las. Nachdem der Chef der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, zähneknirschend seinen Widerstand aufgegeben hat, werden Fotos und Dokumente von jüdischen Kindern auf eben den Bahnhöfen zu sehen sein, auf denen sie in den Tod verfrachtet worden sind. Gezeigt werden Menschen, über deren qualvollen Tod wir einiges, über deren Leben wir nicht viel wissen. Aber die Fotos werden uns zu denken geben wie die der Toten auf einigen Friedhöfen.

Auf Grabsteine Fotos zu applizieren, ist ganz üblich in Ost- und Südeuropa. Den Brauch kennen die Orthodoxen, die keine Scheu vor der Ikone haben, aber auch die Katholiken, die an die Auferstehung des Fleisches glauben. Der aufgeklärte Nordeuropäer lächelt darüber, er bevorzugt die Einäscherung und das anonyme Grab. Die Bestattung ist ihm wenig mehr als eine Entsorgung. Wenn das bisschen zappelnde Leben zu Ende ist, ist es für immer zu Ende. Die uns südliche Menschen peinigende Vorstellung, dass die Toten vergessen sein werden – »Andere blieben ohne Nachruhm; sie sind erloschen, sobald sie starben. Sie sind, als wären sie nie gewesen, und ebenso auch ihre Kinder« (Sir. 44,9) –, ist ihm die vertraute und willkommene. Das ist sehr philosophisch – zu sehr.

Wer über einen Friedhof im ost- oder süd­europäischen Stil spaziert, päppelt dagegen den Aberglauben, die Toten seien noch gar nicht ganz tot. Er findet sich inmitten der Porträts von Fremden. Viele bleiben ihm fremd, andere locken ihn in seltsame Gedankenspiele. Hier schaut uns ein trauriges, blasses Gesicht an. Das könnte eine Traumtänzerin gewesen sein. Dort markiert einer Grandezza hinter seinem buschigen Schnurrbart. Ein Notar? Ein Gastwirt? Der Lächerlichkeit und der Größe des Lebens zugleich begegnen wir auf diesen Bildern. Und man muss nicht Psychologe sein, um zu wissen, wie das geht: Wir vergleichen die Leben der Gestorbenen mit unseren eigenen. Das ist sentimental, vielleicht sogar kitschig, aber Gedenken braucht einen Fingerzeig, es regt sich nicht vor Abräumhalden.

Ein Bahnhof ist das genaue Gegenteil von einem Friedhof. Hier bleibt man nicht stehen, hier steigt man aus oder zu. Mehdorn hat diesen Umstand angeführt, um die Fotos und Dokumente der Ermordeten von seinen sauberen Bahnhöfen fernzuhalten. Aber genau das ist der beste Grund für die Ausstellung: Diese Kinder haben kein Grab, sie wurden niemals bestattet, es gibt keinen Friedhof für sie. Der Bahnhof ist zu ihrem Friedhof geworden. Man zwang sie in Viehwaggons, in denen etliche zerquetscht wurden oder erstickt oder verdurstet sind. Diejenigen, die lebendig am Bestimmungsort im Osten ankamen, wurden dort umgebracht. Die Kinder haben die Deutschen über ihre wohl organisierte Infrastruktur geschleust, die seinerzeit und mitunter noch heute den Neid der Nachbarn weckt. Diese musterhafte Ordnung galt und gilt als ein Höhepunkt der Zivilisation. In diesem gut geölten Getriebe zermahlen zu werden, war ein sehr moderner Tod. Es war eine Entsorgung.

Das biblische Judentum schrieb die Bestattung selbst der Gehenkten vor: »Begraben sollst du ihn« (Dtn. 21,23). Vom Standpunkt der Aufklärung aus betrachtet, ist das völlig unbegreiflich. Der Leib des Gehenkten ist im Grunde organischer Abfall, er könnte ebensogut den Vögeln zum Fraß dienen. Man wird sich seiner gewiss nicht erinnern wollen; seine zeremonielle Bestattung hat also gar keinen sozialen Wert. Und doch ließen die alten Juden selbst ihm diesen Liebesdienst zuteil werden. Heiner Müller sagte einmal, der Wert einer Kultur bemesse sich daran, ob sie ihre Toten ehre. Und das ist der einzige Satz Müllers, der mir jemals eingeleuchtet hat.

Tote, wenn sie nicht gerade Staats- oder Parteiführer, bedeutende Musiker oder Dichter waren, haben keinen Wert für die Lebenden, oft nicht einmal für die Angehörigen. Wer die Toten ehrt oder wenigstens respektiert, durchbricht eine utilitaristische Logik, die die kapitalistischen ebenso wie die sozialistischen Gesellschaften regiert. Aber wer diese Logik nicht bestreitet, darf nicht hoffen, dass den Überflüssigen jemals Achtung bezeigt wird.

Wenn der zweckmäßige Betrieb der Deutschen Bahn gestört würde, wäre das der Triumph einer schönen und großzügigen Kultur. Es gilt, die von Gleis zu Gleis eilenden Passagiere wenigstens für einige Minuten zu irritieren. Nicht ob sie einen Zweck hat oder einen Sinn ergibt, sondern ob sie ein wenig Sinnlosigkeit stiftet, ist die Frage, die an die Ausstellung gestellt werden muss. »Man krepiert an der sinnvollen Entwicklung«, schrieb Carl Einstein, der an der sinnvollen Entwicklung, auf der Flucht vor der Gestapo, krepierte. Die Täter waren keine Wahnsinnigen, sie folgten einer klar ausformulierten Philosophie, und es war eine moderne Philosophie: Sie sonderte Über­flüssige aus und wollte sie wie Biomüll entsorgt sehen.

Diese Überflüssigen wurden nicht bestattet, deshalb sind weder eine Trauerwoche noch ein Trauerjahr für sie abgehalten worden. Die Gerechtigkeit verlangte also, dass die Trauer um sie nicht enden darf. Wer diese Gerechtigkeit in Deutschland einfordert, erntet Spott. Am spöttischsten geben sich die Sensibilitätsprofis, Schriftsteller und Feuilletonisten, welche eine Art von nationalem Narzissmus pflegen, der alles, was ihnen selbst widerfährt, fein empfindet und die Grausamkeiten, die andern angetan werden, reglos registriert. An Reisenden mit Bahncard 100 vom Schlage Martin Walsers zielt die Ausstellung vorbei. Das ist ein Vorteil.

Andere, gewöhnliche Reisende werden sich in diese Fotos und Schicksale hineindenken. Darin liegt allerdings auch eine Gefahr. Anne Frank haben manche Nachkommen der Täter für eine Leidensgefährtin gehalten. Solche Anmaßung ergibt sich nahezu natürlich aus dem vergleichenden Betrachten. Aber gibt es Empathie ohne Vergleich? Und gibt es ein Gedenken ohne Empathie? Das Gedenken könnte ein Schritt vorwärts (er war ein Mensch wie ich) und zurück (er war anders als ich), vorwärts und zurück sein.

Wir werden 150 Fotografien sehen. Ermordet wurden aber Millionen. Doch selbst 150 Fotografien werden die Phantasie des Spaziergängers überfordern, der auf einem Friedhof sich zu diesem oder jenem Foto eine Existenz hinzudenkt. Zeigte die Ausstellung nur ein paar Kinder, müsste man ihr Vereinfachung vorwerfen. Aber sie zeigt gerade so viele, um beispielhaft deutlich werden zu lassen, dass das Geschehene nicht wirklich zu erfassen ist.

Es ist nicht möglich, den Holocaust in seinem ganzen Grauen darzustellen. Auch ein Monument, das die Undarstellbarkeit darstellt, wie das große Mahnmal in Berlin, kann sich dieser Schwierigkeit nicht entwinden. Ihr heißt es sich zu stellen. Die Unmöglichkeit ist der Modus, in dem allein das Gedenken in Deutschland sich vollziehen kann, im Bewusstsein, dass es nicht einmal möglich ist, einigen Dutzend dieser Toten gerecht zu werden, und in der Trauer darüber, dass sie nicht bestattet wurden und nicht bestattet werden können.