Die Globalisierung des Schmerzes

»Babel« perfektioniert die Technik der Parallelmontage. Doch die spektakuläre Dramaturgie kaschiert nicht die alttestamentarische Moralität der Erzählung. von esther buss

Vier Geschichten auf drei Kontinenten. Vier Staaten, fünf Sprachen, elf Hauptfiguren, viele Schicksale, viel Schuld. Der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu fährt in »Babel«, seiner nun dritten Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautoren Guillermo Arriaga, einiges an Masse und Gewicht auf. Wie in seinen Filmen »Amores Perros« und »21 Gramm« beginnt alles mit einem Unfall: Zwei Brüder, Ahmed und Yussef, üben im marokkanischen Hinterland mit einem Jagdgewehr, Schakale sollen damit von der Herde vertrieben werden. Die beiden Kinder konkurrieren darum, wer besser schießen kann, zielen zunächst auf Steine und schließlich auf einen Reisebus. Unglücklicherweise trifft die Gewehrkugel die Schulter einer amerikanischen Touristin (Cate Blanchett), was eine Kettenreaktion auslöst.

Alles hängt mit allem zusammen in der großen globalisierten Welt. Der Ehemann (Brad Pitt) versucht nun verzweifelt, das Leben seiner Frau zu retten. Die Botschaft ist informiert, aber ein Arzt lässt auf sich warten, und die Verletzte muss von einem Veterinär notdürftig zusammengeflickt werden. Wegen der verspäteten Rückkehr muss die mexikanische Nanny zu Hause in San Diego die Kinder des Paares mit zu einer Hochzeit nach Mexiko nehmen, was auf der nächtlichen Heimfahrt zur Katastrophe führt, Santiago, ihr alkoholisierter Neffe (Gael Garcia Bernal), dreht bei der Grenzkontrolle durch. Inzwischen fahndet die marokkanische Polizei mit absoluter Härte nach den Gewehrschützen, denn der Anschlag ist bereits als terroristischer Akt über die Medien verbreitet worden. Die Nachricht flimmert bereits über den Fernsehmonitor eines taubstummen pubertierenden Mädchens in Tokio. Ihr Vater wiederum, ein japanischer Großwildjäger, ist der ursprüngliche Besitzer des Gewehrs.

Der Film funktioniert nach dem Prinzip der growing toys, das sind diese Spielsachen, die auf das doppelte Volumen anwachsen, wenn man sie in einen Eimer Wasser schmeißt. Denn bevor »Babel« bei der großen Tragödie endet, fängt er zunächst sehr klein und leise an, bleibt ganz nah an seinen beiden Figuren in Marokko, als würde er sie durch den ganzen Film begleiten wollen. Die nüchterne und realistische Bildsprache erinnert an Michael Winterbottoms »In this World«: wenig Farben, viel Staub, eine sehr direkte, ungekünstelte Erzählung.

Es ist schon verblüffend, wie sich ein Schauspieler wie Brad Pitt in dieses authentische Setting einfügt, ohne neben den Laiendarstellern wie ein Hollywoodstar zu funkeln. Allem gilt die gleiche Aufmerksamkeit und Intensität, nichts ist wichtiger als das andere. Auf diese Weise gelingt es »Babel«, die einzelnen Teile – verschiedene Figuren, Schauplätze und Sprachen – Englisch, Spanisch, Arabisch, Japanisch, Gebärdensprache – ohne Brüche zu einem großen Ganzen zusammenzuschmelzen.

Das Timing ist immer perfekt. Iñárritu weiß genau, wann es wieder Zeit ist, den Schauplatz zu wechseln, und welche Informationen er wann geben darf. Seit Filmen wie »Traffic«, »Syriana« oder auch »L.A. Crash« ist diese Form der Parallelmontage zu einer regelrechten Disziplin avanciert. Mitunter aber, und das ist auch bei Iñárritu nicht anders, hat man das Gefühl, es gehe immer mehr darum, die virtuose Beherrschung einer Erzähltechnik vorzuführen.

Die verschiedenen Erzählstränge werden in »Babel« nicht nur durch das Motiv der Gewehrkugel verbunden, sondern durch einen behaupteten Zusammenhang universeller Menschlichkeit. Der monumentale Titel bezieht sich auf nichts weniger als die biblische Geschichte. Darin bestraft Gott den Turmbau, indem er die Menschen über den Erdball verstreut und ihre Sprachen verwirrt. Die Figuren in »Babel« leiden an dieser Sprachverwirrung oder, weniger altertümlich gesagt, an Kommunikationsproblemen. Diese machen sich vor allem am Topos der Grenze fest, die sich durch das Politische wie das Private zieht.

Am drastischsten zeigt sich diese in ihrer konkreten Form, als geographische Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Santiago und seine Tante sind den Erniedrigungen der Grenzpolizei ohnmächtig ausgeliefert, als sie sich in ihren Antworten verheddern und zudem ein gefordertes Papier nicht vorweisen können. Die staatliche Willkür schlägt ihnen mit aller Wucht entgegen, eine alltägliche Situation fällt mit dem Ausnahmezustand zusammen.

Die Tokio-Episode erzählt davon, nicht dazuzugehören, abgetrennt zu sein. Das rebellische Mädchen Chieko kann nicht sprechen, sie versucht, sich auf oft bizarre Art mit ihrem Körper mitzuteilen, etwa wenn sie während der Behandlung über ihren Zahn­arzt herfällt oder sich plötzlich unvermittelt auszieht. Ihre Wahrnehmung als Outcast wird besonders bei einem Clubbesuch erfahrbar. Der ganze Raum ist erfüllt von dem wummernden Beat, die Bässe krachen, die Körper bewegen sich, doch plötzlich wird der Sound fast unhörbar, ist nur noch als ein undefinierbares, leises Grundrauschen zu hören. Das Mädchen wirkt plötzlich wie aus dem Hintergrund herausgeschnitten.

Chieko ist dennoch die eigenständigste Figur in »Babel«. Immerhin gehört ihr Schick­sal ihr selbst, während das der anderen den staatlichen Instanzen überlassen bleibt, der Botschaft, der Grenzpolizei, der Einwanderungsbehörde etc., die aber immer nur dann ihre Monstrosität entfalten, wenn es der unglückliche Zufall will.

Nach einiger Zeit kann man kaum mehr dabei zusehen, wie die Figuren in eine Hölle nach der anderen geraten. Sind sie ohnehin schon schlimm dran, kann es immer nur noch schlimmer kommen. Und damit nicht genug: Auch in ihrer Vergangenheit haben sich schlimme Dinge ereignet. Chiekos Mutter hat Selbstmord begangen, das amerikanische Paar hat ein Kind verloren, die Beziehung ist seitdem kaputt. Iñárritu treibt seine Figuren unermüdlich in Extremsituationen, darin ist er geradezu intensitätssüchtig. In einer Szene findet das Ehepaar wieder zueinander, kann plötzlich über den Verlust des Kindes sprechen und zusammen weinen, ausgerechnet dann, als der Mann seiner verletzten Frau beim Pinkeln hilft.

Das Leiden gerät so zum Ornament, das die Figuren ausstattet, ihnen Größe verleiht. Nur wer tonnenschwer mit Schmerz und Schuld beladen ist, wird in Iñárritus filmisches Universum aufgenommen, in dem der Regisseur als gottähnliche Instanz fungiert. Denn der Augenblick ultimativer Befriedigung scheint schließlich darin zu bestehen, die armen Kreaturen nach all den Torturen am Ende des Films zu erlösen.

Nun muss das nicht unbedingt schlecht sein. Auch Lars von Trier geriert sich gerne als Regie-Gott, der seine Figuren genüsslich quält. Doch er thematisiert diese Rolle oft auf selbstironische Weise, auch haben seine Filme den Charakter von modellhaften Anordnungen, die man als gebaute, künstliche erkennt. »Babel« dagegen versteht sich als authentisches, wahrhaftiges Zeugnis menschlichen Leidens, deshalb ist das Kalkulierte daran so unangenehm. Letztlich bekommt man noch das Gefühl, man müsse sich für die Gnade des versöhnlichen Endes bedanken.

Babel. USA 2006. Regie: Alejandro González Iñárritu. Darsteller: Brad Pitt, Cate Blanchett, Boubker Ait El Caid, Gael García Bernal. Kinostart: 21. Dezember 2006