Ding an sich

Deutsche Popliteratur

Der Stoff der deutschen Popliteratur war Thema einer wissenschaftlichen Tagung in Berlin. Den Tagungsband anzufassen, habe ich mich erst gesträubt, weil er so hässlich eingebunden ist. Endlich kam ich darauf, dass den Deckel des Buches nicht mehr sieht, wer es aufschlägt und liest. Und das ist eben Pop: Anstatt vor der Hässlichkeit der Welt zurückzuschrecken, werfe man sich mitten in sie hinein, schon sieht man sie nicht mehr.

Freilich würden mir die versammelten Wissenschaftler und Popliteraten widersprechen, die sich von der »Stoff- und Materialpräsentation« gerade eine Sichtbarkeit der Welt, das »große Augenöffnen« (Heinz Ohff), erhoffen. Einige ältere Literaten – genannt werden Francis Ponge oder Gertrude Stein – hätten sich zwar den Dingen zugewandt, doch sich entweder wie Würmer in sie verbohrt oder sie der Form zum Opfer gebracht. Der Pop-Autor begnüge sich mit der Oberfläche, durchforme seinen Stoff nicht und sei deshalb der viel souveränere Realist.

Das ist Kokolores. Wer collagiert und montiert wie Rolf Dieter Brinkmann oder Jürgen Ploog, wer Waren, Titel, Be­obach­tun­gen listet wie Hubert Fichte oder der junge Peter Handke, hat deshalb noch nicht aufgehört zu formen. Die Liste zumal gehört zu den ältesten Formen der Weltliteratur; man schlage das Buch Numeri der Bibel auf. Diedrich Diederichsen spricht vorsichtiger von »strukturschwachen« Texten. Doch ist das Gerippe des Textes selten deutlicher zu spüren als in einer Collage oder einer Liste.

Dass nun eine unkommentierte Reihung von Dingen mehr von der Welt zeige als eine Verdichtung, ist der fromme Wunsch von Sensualisten wie Brinkmann oder Fichte. Aber das Ding der Literatur wird zum Ding an sich erst dank des Lesers, der das eine auf das andere projiziert. Und intelligentere Schriftsteller und Künstler haben ohnehin die Welt gar nicht sichtbar, sondern unsichtbar machen wollen. Das gilt etwa für Ferdi­nand Kriwet, der zu Recht in dem Band breit gewürdigt wird. Sein Hörstück »Apollo Amerika« (1969) liest aus den Live-Berichten zur Mondlandung die pathetischsten Begriffe (»moon«, »mankind«) aus und verwandelt sie zu Klang-Clustern, »Dschubi Dubi« (1977) arrangiert das Lalala der Schlager. Der schale Sinn verdampft in der Musikalisierung. Das ist Pop, an den man sich noch erinnern wird, Lichtmeilen entfernt vom teutschen Echteln und Fuchteln eines Brinkmann.

Dass das Feuilleton um dessen Originaltonmontagen neuerdings wieder den Kitsch der Unmittelbarkeit – »authentisch!«, »lebendig!« – rankt, entnehme ich dem Beitrag von Eckhard Schumacher nicht ohne Kopfschütteln. Wollten uns Pop und Postmoderne nicht gerade davon befreien? Die Kritik sitzt der Selbsttäuschung des Schriftstellers auf, wer kopiere, sei näher dran. Diese Dummheit ist der Humus der Kunst seit der Erfindung der Mimesis. Darauf wird noch viel gedeihen. Die Anschaffung des Buches lohnt am Ende ein Gespräch mit Peter O. Chotjewitz, der nach so vielen »kritischen Schnittstellen«, die »den Blick auf eine weitere Ambivalenz« öffnen sollen, mit Anekdoten erfrischt.

stefan ripplinger

Dirck Linck, Gert Mattenklott (Hg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Popliteratur der sechziger Jahre. Wehrhahn Verlag, Hannover-Laatzen 2006, 254 S., 25 Euro