Nichts wie weg!

Anderswo lebt es sich besser. von peter-paul zahl, long bay/jamaika

Ich war gerade neun Jahre alt, als mich meine Eltern aus einer traumhaft schönen Kindheit in der mecklenburgischen Seenplatte in den »Goldenen Westen« verschleppten, ausgerechnet ins Rheinland der schwarzbraunen Adenauerzeit. Heimisch werden konnte ich dort nie. Nach den Jahren an höchst inhumanen Humanistischen Gymnasien und einer dreijährigen Lehrzeit flüchtete ich im Frühjahr 1964, um der Bundeswehr zu entgehen, nach Westberlin in die wunderbaren Jahre der »sozial- und kulturrevolutionären Revolte« (Rudi Dutschke).

Sofort suchte ich Kontakt zu ähnlich gepolten Leuten aus der Arbeiter- und so genannten Lumpenproletarierszene. Und fand: sehr viele. Ende 1964 die erste militante Aktion: Anlässlich des Besuchs einer CIA-Marionette aus dem Kongo durchbrachen SDSler, FDJler und unorganisierte Lehrlinge und Proleten die Bannmeile um das Schöneberger Rathaus. Noch waren wir wenige. Das änderte sich schnell.

Aber ich war nicht nur Politico. Nahm als gelernter Drucker alle Arten von Jobs an, arbeitete so wenig wie möglich und war Mitglied der Beatnik-, Rock’n’Roll- und Kifferkultur. Zudem hatte ich mit dem Schreiben begonnen und machte mit Musikern die ersten Gigs mit Lyrik & Beat. Heute mache ich Dub-Lyrik, quasi das Gleiche. Wir versuchten, Berlin (und später: die Welt) uns anzupassen. »Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab.« (George B. Shaw)

1966 dachten meine Frau und ich daran, nach Griechenland auszuwandern. Da kam der von der CIA angeleierte Putsch der Obristen dazwischen. So wandten wir uns in Berlin ansässigen griechischen Oppositionellen zu und halfen ihnen mit legalen und illegalen, aber legitimen Mitteln. Später, als sie aus der Scheiße waren und ich, bis über das Kinn, drinsteckte, bedankten sie sich mit der Herausgabe eines schönen Gedichtbandes in Athen und damit, dass die von der »Kommunistensau« zur Kultusministerin aufgestiegene Melina Mercouri sich für meine Begnadigung einsetzte. Die bei der Unterstützung der griechischen Genossen gelernten Künste verwandte ich, um Soulbrothers in Berlin, die weder in Vietnam zu Mördern werden noch dort umkommen wollten, ins vorübergehende Exil nach Schweden zu bringen. Später, in anderer Sache unterwegs, schossen Polizisten auf mich, ich schoss nicht zurück, sondern absichtlich daneben (Beweis: das Gutachten des BKA). Wurde in erster Instanz zu vier, in zweiter zu 15 Jahren verurteilt. (»Das Strafmaß von drei bis 15 Jahren musste voll ausgeschöpft werden, weil Zahl Gegner des Staates ist«, sagte der Richter.)

Kaum hatten sich nach zehn langen, brutalen Jahren die Tore meines Betonkäfigs geöffnet, flog ich davon. Eine Heimat suchen. Denn Berlin hatte sich zur Kenntlichkeit verändert. Die Feinde hatten sich nicht geändert, aber viele der Freundinnen und Freunde, Genossen und Genossinnen. Zum Schlechteren. So machte ich mich auf den Weg und bedauerte nicht mich, sondern sie. Die Stationen hießen Grenada, die Seychellen, schließlich die Nordküste von Jamaika.

Als ich das erste Mal aus Grenada zurückkam, fiel es mir erst richtig auf: Die Leute sind alle zu schnell, zu ängstlich, zu kon­sum­orientiert. Das ist ein Grund zu sagen: Nichts wie weg! Ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Kingston hatte mir gesagt: »Herr Zahl, wenn Sie länger hier sind, werden Sie deutsche Effizienz zu schätzen wissen.« Ich hatte sie, das der zweite Grund, am eigenen Leib zur Genüge erlebt.

Ein dritter Grund: Im von Armut, Drogen, Arbeitslosigkeit und Korruption geplagten Jamaika kündigt 1999 der Finanzminister mit einer völlig idio­tischen Begründung eine Steuererhöhung an. Prompt machen 90 000 gewalttätige und 60 000 gewaltlose Demonstranten die Insel dicht. Drei Tage kommen Flugzeuge und Schiffe weder hinein noch heraus, die Hauptstraßen sind verbarrikadiert. Und 69 Prozent der Bevölkerung bejahen die Randale! Aber was passiert in der BRD? Etwa, wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird?

Es lebt sich gut hier. Sogar angesichts von Katastrophen. Nachdem der Hurrikan Gilbert 1988 die halbe Insel verwüstet hatte, kamen 34 Singles heraus, eine witziger als die andere. Jamaika: ein Vulkan an Talenten, Subversion und Widerstand. Affinität brachte mich her, denn Exil will maßgeschneidert sein. Sonst geht es Auswanderern so: »Ein Fremder hat immer/ Seine Heimat im Arm/ Wie eine Waise/ Für die er das Grab sucht« (Nelly Sachs).

Peter-Paul Zahl, 62, lebt seit 1985 auf Jamaika. Sein bekanntestes Werk ist der im Gefängnis verfasste Roman »Die Glücklichen«. Zuletzt erschienen die Krimis »Kampfhähne« und »Im Todestrakt« (Fischer).