Schaut auf diese Städte!

Auch fünf Jahre danach sind Wirtschaftscrash und Widerstand in Argentinien in den deutschen Kulturwissenschaften noch präsent. von jessica zeller

Was haben Argentinien und Deutschland miteinander gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel, möchte man meinen. In dem einen Land gibt es gutes Essen, vor allem Fleisch, die Leute sind freundlich und hilfsbereit, und wenn es mal eine Krise gibt, dann schlagen die Argentinier einfach auf ihre Kochtöpfe. In Deutsch­land wiederum kann man das Fleisch vergessen, speziell in Berlin schnauzen einen die Leute auf der Straße auch ohne Grund gern mal an, und vor der Revolution kauft man sich eine Bahnsteigkarte, bevor man den Bahnhof zu stürmen beabsichtigt.

So viel zum Klischee. Das Klischee aber sei »keine Grenze, sondern eine Art Eingangshalle«, sagte der argentinische Architekt Mauricio Corbalán im Rahmen einer Gesprächsreihe zwischen argentinischen und deutschen Künstlern, Aktivisten und Kulturschaffenden, die im Oktober 2004 unter dem Titel »Krise als Labor« stattfand. Zunächst diskutierte man zwei Tage lang im Centro Cultural San Martín auf der vor Leben und Bücherläden strotzenden Avenida Corrientes mitten in Buenos Aires, kurz darauf unterhielt man sich in den Hallen eines alten Schlachthofs im weniger herausgeputzten Teil von Berlin-Friedrichshain.

Beide Runden, oder wenn man so will, beide »Krisenlabore«, die von viel Tamtam begleitet wurden, waren Teil eines Festivals anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft von Berlin und Buenos Aires. Das Motto war: Es gibt etwas, das uns verbindet, und wenn es nur die Krise ist. »Sowohl Berlin als auch Buenos Aires sind mehrfach erschütterte, gleichsam gebrochene Städte«, so die Kulturwissenschaftlerin Anne Huff­schmid, die die Veranstaltung organisierte und die Gespräche unter dem Titel »Stadt als Labor« als Buch herausgegeben hat.

Entstanden ist ein Text, bei dem das Who is Who der argentinischen und deutschen kritischen Linken über alles Mögliche spricht und teilweise auch aneinander vorbeiredet. Die Stichworte sind: hohe Arbeitslosigkeit in beiden Städten, Kreativität inmitten von prekären Lebensverhältnissen, Erinnerung an Diktaturverbrechen, Mauerfall und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Vor allem aber steht einmal wieder Argentiniens »Exportschlager«, der wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenbruch Ende 2001, im Mittelpunkt des Interesses.

Denn seit den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember gilt das südamerikanische Land nicht nur in der deutschen Linken als Paradebeispiel für das Scheitern des Neo­liberalismus und die Krise der politischen Repräsentation im Spätkapitalismus. Toni Negri, Naomi Klein, John Holloway und wer sonst noch was in der Globalisierungskritik zu sagen hat, haben darüber geschrieben. Unzählige Diplomarbeiten in den Fächern Kulturwissenschaften, Soziologie, Politikwissenschaft und Ethnologie sind über Tausch­märkte, Piqueteros, Nachbarschaftsversammlungen und besetzte Fabriken verfasst worden. Mit den Jahren, als sich die Wirtschaft des Landes erholte und die sozialen Bewegungen keine dauerhafte Macht von unten aufbauten, sondern ihr Schicksal bereitwillig in die Hände eines neuen Präsidenten legten, verpuffte der Enthusiasmus wieder.

Trotzdem, »Stadt als Labor« wie auch ein jüngst erschienenes Sonderheft der Zeitschrift kultuRRevolution mit dem Titel »Argentiniens (Post)krise: Symbole und Mythen« sind Beweise dafür, wie die Faszination für den Crash deutsche Wissenschaftler und Publizisten noch mehrere Jahre danach zu Workshops und Buch­publikationen verleitet.

So unterschiedlich beide Veröffentlichungen auch sind, gemeinsam ist ihnen die Auffassung, dass das, was damals in Argentinien passierte, die »Avantgarde« dessen war, was uns im Zeitalter von Hartz IV und wachsender sozialer Ungleichheit hierzulande noch erwartet und was man sich davon erhoffen kann, nämlich zumindest ein bisschen Selbstorganisation der Betroffenen. Der zeitliche Abstand zu den Geschehnissen trägt sicherlich dazu bei, dass man sich mit der Projektionsfläche Argentinien etwas entspannter auseinandersetzen kann. Es geht thematisch oft über die Ereignisse von 2001 hinaus, und gerade bei der Fra­ge der Erinnerungspolitiken beider Länder gibt es Interessantes zu lesen.

Denn auch wenn Nationalsozialismus und Militärdiktatur nicht zu verglei­chen seien, so der Ansatz, würde in beiden Fällen die Forderung sozialer Akteure, die Geschich­te kritisch aufzuarbeiten, von staatlicher Seite vereinnahmt. Die politischen Entscheidungsträger beider Länder legitimierten sich längst auch dadurch, dass sie sich »gut erinnern«. Der Herausgeberin Anne Huff­schmid gebührt außerdem das Verdienst, im der SPD nahe stehenden Parthas-Verlag ein Buch veröffentlicht zu haben, das aussieht, als sei es von b-books, und das wirklich schicke Fotoserien von Arwed Messmer und Sebastián Friedman enthält.

Diese Qualität besitzt die zweite, sehr textlastige Veröffentlichung leider nicht. Die Zeitschrift kultuRRevolution, die Jürgen Link seit einigen Jahren herausgibt, ist ein akademisches Blatt, wenn auch eins der lesbareren Sorte. Die Aussagekraft der insgesamt zwölf versammelten Aufsätze, die sich mit ganz unterschiedlichen Themen (Institutionenen, Theater, Kino, politischer Journalismus, Kunst) und den jeweiligen Veränderungen durch die Krise auseinandersetzen, ist sehr unterschiedlich. Manche Autoren scheinen kaum eine Ahnung davon zu haben, was in Argentinien seit 2001 passiert ist, wenn sie etwa wie Torben Lohmüller in seinem Text über die Arbeitslosenaktivisten weiter die »Solidarität« innerhalb der argentinischen Bewegungen hochhalten. Andere, vor allem argentinische Autoren, verklären den derzeitigen Präsidenten, Nestór Kirchner, als Erlöser von allem Elend.

Wirklich interessant ist der Aufsatz von Estela Schindel, die über Krise und Kunst reflektiert und dabei das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichem Engagement, fehlender staatlicher Finanzierung und dem möglichen Ausweg durch die Unterstützung durch europäische Institutionen beschreibt: »Einige Länder exportieren politische Krisen, zusammen mit innovativen Strategien ihrer Bewältigung, während andere Länder kuratorische Konzepte exportieren.«

Auch Wolfgang Bongers Beschreibung des argentinischen Kinos im Jahr 2004 macht Lust, einmal im Internet oder auf Filmfestivals nach Streifen wie »Vida en Falcon« über zwei Obdachlose, die in ihren Autos leben, oder »Habitación disponible«, der von dem Leben russischer Migranten in Buenos Aires erzählt, Ausschau zu halten.

Insgesamt ist beiden Büchern zwar ein gewisser Anachronismus eigen, der aber nicht unbedingt unsymphatisch ist. Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Lage im Land wieder »normalisiert« hat und die sozialen Proteste zumindest nicht mehr in den Medien sind, regen sie den Diskurs über Argentinien wieder an.

Anne Huffschmid (Hg.): Stadt als Labor. Krise und Erinnerung in Buenos Aires. Parthas-Verlag, Berlin 2006, 263 Seiten, Euro 24,90

kultuRRevolution Nr. 51, September 2006, 10 Euro