Töten, dann reisen

Lange Zeit wurde die Rolle der Reichsbahn beim Holocaust vernachlässigt. Die Täter aus dem Reichsverkehrsministerium kamen straflos davon. von heiner lichtenstein

Am 13. März 1945 gelingt sowjetischen Kampf­truppen die Landung am westlichen Ufer der Oder. Der Weg nach Berlin ist fast frei. Die Hauptstadt steht seit Wochen infolge der Luft­angriffe teilweise in Flammen. Nun kommen in den Höfen der Reichsministerien riesige Scheiterhaufen hinzu. Viele Menschen verstehen zwar, warum im Reichs­sicherheitshauptamt der SS, im Arbeitsministerium, beim Heer und der Luftwaffe tonnenweise Akten beseitigt werden. Schließlich gilt es, blutige Spuren zu beseitigen. Warum aber auch im Reichsverkehrsministerium drei Tage lang riesige Aktenberge lodern, kann sich niemand erklären.

»Erst siegen, dann reisen« und andere Slogans der Reichsbahn erschienen den Deutschen nicht verbrecherisch. Nur in der Führungsetage des Ministeriums weiß man sehr genau, warum bestimmte Dokumente auf keinen Fall in die Hände des Feindes gelangen dürfen. Sie tragen zwar unterschiedliche Aktenzeichen, im Thema stimmen sie aber überein: Sie betreffen die »Endlösung der Judenfrage«, die ohne die Reichsbahn überhaupt nicht möglich gewesen wäre.

Nur ein Unternehmen, das Massentransporte bewältigen konnte, war überhaupt in der Lage, Millionen von Menschen aus Norwegen und Dänemark, Frankreich, den Beneluxstaaten, Italien, Griechenland, Ungarn, Rumänien und der UdSSR über Tausende von Kilometern zu einigen wenigen Orten im unterjochten Ostpolen, dem »Generalgouvernement«, zu deportieren: eben die Deutsche Reichsbahn, unterstützt von den Bahnen anderer Staaten.

Ein Außenstehender wusste allerdings, dass es im Reichsverkehrsministerium ein Referat gegeben hatte, das speziell für diese Aufgabe eingerichtet worden war: Robert Kempner, ein im Jahr 1936 vor den Nazis aus Berlin geflüchteter Jurist. Er kam im Jahr 1945 aus den USA nach Deutschland zurück, um beim ersten Nürnberger Strafverfahren gegen die Führung des nationalsozialistischen Regimes dem US-Chefankläger Telford Taylor als dessen Stellvertreter zu helfen. Während der Vorbereitung des Prozesses ließ Kempner den ehemaligen Reichsverkehrsminister Julius Dorp­müller suchen, um auch ihn auf die Anklagebank zu bringen. Vergeblich. Dabei lebte er hoch betagt unbehelligt in Paris. Er starb am 5. Juli 1945, also vor der Eröffnung des Nürnberger Hauptverfahrens.

Kempners Auftrag, Dorpmüllers Staatssekretär Albert Ganzenmüller aufzuspüren, blieb auch unerfüllt. Er befand sich zwar seit dem 20. Mai 1945 im US-Internierungslager Moosbach an der Isar, galt aber trotzdem als verschollen. Es ging eben wenige Wochen nach der Befreiung in Europa einiges drunter und drüber. Und deshalb wurde während des Nürnberger Prozesses, der am 20. November 1945 begann, die Rolle der Reichsbahn als Todesspediteur kaum thematisiert.

So blieb das fast ein Vierteljahrhundert. Mit der Währungsreform im Jahr 1948 und der Gründung der Bundesrepublik 1949 gab es nur ein Ziel: den Aufbau des neuen Staats. Von Aufarbeitung der zwölf NS-Jahre keine Spur. Aus der Reichsbahn wurde die Bundesbahn. Sie richtete in Frankfurt am Main ihre neue Zentrale ein und traf auf der Suche nach Mitarbeitern vorwiegend auf alte, erfahrene Reichsbahner. Sie stiegen bald in leitende Positionen auf und sorgten dafür, dass die wenigen noch erhaltenen Akten aus der NS-Zeit verschwanden oder unauffindbar wurden.

Nebenbei schrieben sie Bücher über die humanitäre Rolle der Reichsbahn etwa bei der Rettung von Millionen Deutschen auf der Flucht vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges oder rühmten die Leistungen der Bahn bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Brennstoffen während des Krieges.

Dabei unterschlugen sie geflissentlich, dass dieses Material aus unterjochten Staaten kam, in denen dafür Millionen Zivilisten verhungerten oder erfroren. Werner Pischel, einst hoher Reichs­bahnbeamter in Krakau, verstieg sich sogar dazu, selbst ein Buch über den Teil der Reichsbahn zu schreiben, der für die Todesfahrten die bedeutendste Rolle spielte. Das war die Ostbahn. Pischels Buch »Die Generaldirektion der Ostbahn in Krakau 1939 – 1945« erschien 1964 im Archiv für Eisenbahnwesen. Diese Kontinuität zeigt, dass es auch hier keinen Bruch zwischen Reichs- und Bundesbahn gab. Die Bände des Archivs waren durchnummeriert. Die Millionen Deportierten erwähnte Pischel nicht.

Wie bei anderen Bundes- und Landesbehörden, Berufsständen, Universitäten und For­schungs­instituten dauerte es auch bei der Bundesbahn Jahrzehnte, bis öffentlich gefragt wurde, wie denn die Menschen in die Vernichtungslager gekommen seien. Es waren vorwiegend Studenten, die 1968 auf die Straße gingen und solche Fragen stellten. Beim Thema Reichsbahn war die Justiz der große Helfer. Hier müssen zwei Juristen genannt werden, ohne die wahrscheinlich nichts bewegt worden wäre. Das sind der ehemalige nord­rhein-westfälische Justizminister Josef Neuberger (SPD) und der Düsseldorfer Oberstaatsanwalt Alfred Spieß. Sie setzten schließlich durch, dass der erwähnte Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium, Albert Ganzenmüller, in Düsseldorf angeklagt wurde.

Er wurde am 20. Mai 1945 in Bayern verhaftet und blieb bis zum 8. Dezember 1947 in Haft. Am Tag darauf sollte er in ein anderes US-Lager verlegt werden. Doch in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember 1947 gelang ihm die Flucht. Mit Hilfe des Vatikan floh er aus Europa nach Argentinien. Dort heiratete er im Jahr 1952 und kehrte 1953/54 nach Bayern zurück, um seine Pension als Staatssekretär einzuklagen. Freilich ohne Erfolg.

Er reiste unbehelligt nach Argentinien zurück und übersiedelte 1955 endgültig in die Bundesrepublik Deutschland. Im Ruhrgebiet bot ihm das weltweit operierende Unternehmen Hoesch in Dortmund die Leitung seiner Transportabteilung an. Ganzenmüller sagte zu und blieb dort bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1968.

In Düsseldorf waren die Reisen sehr genau verfolgt worden. Spieß wusste fast immer, wo sich Ganzenmüller aufhielt. Deshalb konnte er in aller Ruhe das Verfahren vorbereiten, das 1973 schließlich vor einer Schwurgerichtskammer in Düsseldorf begann. Es dauerte allerdings nur wenige Wochen. Dann wurde der Angeklagte angeblich verhandlungsunfähig. Immerhin konnte vor dem Ende des Prozesses gegen Ganzenmüller der Berliner Historiker Wolfgang Scheffler sein Gutachten über die Rolle der Reichsbahn vortragen und dabei kaum widerlegbar deren tiefe Verstrickung in den Völkermord nachweisen.

Nach dem kurzen Strafverfahren geriet die Bundesbahn unter erheblichen Druck, sich endlich ihrer Geschichte zu stellen. Sie tat das sehr zögerlich, gab ein eigenes Gutachten in Auftrag und willigte schließlich ein, in ihrem eigenen Museum in Nürnberg dieses hässliche Kapitel deutscher Bahngeschichte zu dokumentieren. Einen Teil dieser Dokumente will nun Hartmut Mehdorn für die Ausstellung zur Verfügung stellen, die er lange nicht haben wollte.

Der Autor ist Redakteur der Tribüne – Zeitschrift zum Verständnis des Judentums