»Wer geht schon ins Bahnmuseum?«

Die Initiatorin der Ausstellung »11 000 jüdische Kinder«, beate klarsfeld, über den Umgang mit den Bildern in Frankreich, die Bedenken von Hartmut Mehdorn und die Idee einer Wanderausstellung auf Bahnhöfen

Der Streit um die Ausstellung ist beigelegt, hieß es Anfang Dezember in der Presse. Die Deutsche Bahn habe nach Appellen aus der Politik nachgegeben. Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee und Bahnchef Hartmut Mehdorn haben sich darauf geeinigt, dass eine Ausstellung über die Deportationen der Reichsbahn auf den Bahnhöfen der Bundesbahn gezeigt werden kann. Ihr Material soll in die bestehende Ausstellung des Nürnberger Bahnmuseums integriert werden. Sind Sie und Ihre Organisation »Fils et Filles des Déportés Juifs« (Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten) mit diesem Konzept einverstanden?

Ich kenne die Nürnberger Ausstellung über die Verstrickungen der Reichsbahn in die Deporta­tion. Das ist wirklich nicht viel, was da gezeigt wird. Wenn das so bleibt, dann ist das ein ganz deprimierendes Ergebnis. Auf drei Tafeln wird das Schicksal von jüdischen Familien, die aus Berlin deportiert worden sind, abgehandelt. Gezeigt werden keine Kinder, sondern meist ältere deutsche Juden. Wir fragen: Wo wird den jüdischen Kindern, die aus Frankreich und den anderen Ländern deportiert worden sind, ein Platz eingeräumt? Das zu tun, ist unser Anliegen, deswegen wollen wir das Material zur Verfügung stellen. Das haben wir auch Herrn Tiefensee mitgeteilt, und darüber möchten wir auch gerne eine Absprache mit ihm treffen.

Wie stehen Sie den Ideen von Tiefensee gegen­über?

Tiefensee hat sich stark engagiert, ich habe ihm gratuliert, als er sich damals im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen gegen die Position Mehdorns stellte. Auch als er in der Süddeutschen Zeitung noch einmal sagte, dass Mehdorn seine Posi­tion ändern solle, und den Vorschlag unterbreitete, zusammen mit dem Hamburger Institut von Jan Philipp Reemtsma eine Ausstellung zu konzipieren. Daraufhin kam dann der Vorschlag von unserer Organisation, dass bei einer Zusammenarbeit mit Reemtsma und dem Verkehrsministerium die Ausstellung erweitert werden solle.

Welches Konzept schlagen Sie vor?

Das sollte dann nicht nur eine Ausstellung über jüdische Kinder deutscher Abstammung, die aus Frankreich deportiert wurden, sondern eine Ausstellung sein, die weit mehr umfasst und unter dem Namen »Deportation und Rettung« laufen könnte. Dabei wollen wir zeigen, dass viele Kinder gerettet wurden, weil die Eltern sie während des Krieges aus Deutschland und Österreich wegschickten. Außerdem soll dargestellt werden, dass die deutsch-österreichischen Kinder nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus Holland – zum Beispiel wie der bekannte Fall Anne Frank –, aber auch aus Belgien, Norwegen und Italien deportiert wurden. Die Ausstellung soll auch zeigen, wie ab 1942 der Hauptteil der Kinder aus Deutschland direkt deportiert wurde. Ich habe Herrn Tiefensee in einem Brief vom 4. Oktober diese Konzeption vorgeschlagen und angeboten, dass die Materialien von uns zur Verfügung gestellt werden würden. Seine Antwort war positiv, er würde dem Projekt so zustimmen und den weiteren Verlauf in einem Gespräch mit mir abklären. Darauf warte ich nun.

Strittiger als die Konzeption war bisher der Ort der Ausstellung.

Wir wissen bislang noch nicht, in welchen Bahnhöfen die Ausstellung gezeigt wird, und auch nicht, welche Bereiche in den Bahnhöfen zur Verfügung stehen. Mehdorn hat die Ansicht vertreten, dass die Ausstellung in der Nähe der Bahnhöfe und begleitet von Führungen durch jüdische Schulen und Gemeinden stattfinden soll. Gegen ein Rahmenprogramm ist nichts einzuwenden. Wir bleiben aber dabei, dass der Bahnhof auf jeden Fall der Ort der Ausstellung sein muss. Wie viele, ob drei, vier oder fünf Bahnhöfe, es sein werden, weiß ich nicht.

Warum ist der Bahnhof der einzige mögliche Ort, um die Bilder zu zeigen?

Es geht um die Symbolik. Die Züge rollten durch die Bahnhöfe, die Züge rollten nicht durchs Museum und nicht durch die jüdischen Gemeinden. Man kann die Bahnlinie verfolgen. Von Frankreich nach Auschwitz geht die Strecke über Saarbrücken, Frankfurt, Weimar und so weiter. Es könnten also genau diese Bahnhöfe sein, aber das muss nicht sein.

Die Ausstellung wurde in Frankreich konzipiert und dort bereits gezeigt. Passt sie für Deutschland?

Die Ausstellung »Enfants juifs déportés de France« zeigte natürlich alle jüdischen Kinder. Unter den 11 000 deportierten Kindern waren 750 Kinder, die in Deutschland oder Österreich geboren waren. Auch deswegen habe ich vorgeschlagen, die Ausstellung in Deutschland zu zeigen. Da Frankreich ein Land war, in dem Juden von überall lebten, waren von den insgesamt 76 000 Juden, die deportiert wurden, immerhin 7 000 deutscher und 3 000 österreichischer Abstammung.

In Frankreich waren die Fotos in 18 Bahnhöfen zu sehen. Wie war die Zusammenarbeit mit der Bahngesellschaft SNCF?

Wir haben in den großen Bahnhöfen die Eingangshallen zur Verfügung gestellt bekommen; der Vorsitzende der französischen Bahngesellschaft hat an mehreren Einweihungsfeiern teilgenommen und uns den Hauptsitz der Bahn zur Verfügung gestellt. Vor fünf Jahren hat die SNCF ein Kolloquium abgehalten, in dessen Rahmen die Archive für uns geöffnet wurden, um die Verantwortung der Bahn bei den Deportationen aufarbeiten zu können. Daran können Sie sehen, wie eng die Zusammenarbeit war.

Gab es ein Mitspracherecht der französischen Bahn bei der Ausgestaltung der Ausstellung, wie es Mehdorn für sich reklamiert hat?

Nein, realisiert haben wir sie vollkommen unabhängig, die SNCF hat uns aber in der Organisation unterstützt und für die Ausstellungsräume, die Technik, die Sicherheit und den Transport gesorgt. Auch heute lagern die Materialien noch in einem Depot der Bahngesellschaft.

Wie haben die Besucher reagiert?

Es hat niemals irgendeinen Zwischenfall gegeben. Obwohl es große Durchgangsbahnhöfe wie in Lyon mit Hunderttausenden Reisenden waren, in denen unsere Ausstellung drei Wochen lang durchgehend von morgens bis abends aufgebaut war. Wir hatten sehr viele Besucher. Ganze Schulklassen sind gekommen, jüdische und nicht jüdische. Der Eindruck war überwältigend. Es war eine Art von Überraschungsausstellung. Natürlich hatten die Leute davon in der Zeitung gelesen, aber die meisten sahen die Ausstellung nicht deshalb, weil sie die Ausstellung sehen, sondern weil sie den Zug nehmen wollten.

Dann aber sind sie konfrontiert worden mit den Fotos von Kindern, die aus einer ganz normalen Umgebung, aus der Familie, der Schule, dem Freundeskreis herausgerissen wurden. Die meisten Bilder zeigen die Kinder lächelnd, weil man Kinder immer auffordert zu lächeln, wenn man sie fotografiert. Manchmal halten sie ihr Spielzeug, eine Puppe oder ein Buch in den Händen. Es sind Fotos, die in den verschiedensten Situationen aufgenommen wurden, von den Eltern oder einem Fotografen. Der Zuschauer liest sich den Text zu den Bildern durch und erfährt, dass das Kind an dem und dem Tag deportiert wurde. Mit den Eltern oder ohne Eltern. Brüder, Schwestern und Eltern, aufgeteilt auf mehrere Transporte.

Das ist das Eindrucksvolle gewesen, wenn man lächelnde Kinder sieht, womöglich selbst noch ein Kind auf dem Arm hat und sich dann auf einmal fragt, warum hat man die denn festgenommen? Warum hat man die Kinder aus ihrer Wohnung, ihrem Leben gerissen und in die Gaskammer geschickt? Die meisten Besucher gehen auf den Bahnsteig und nehmen den Zug. Dann visualisieren sie auf einmal, wie vor 60 Jahren an dem Ort die Viehtransporter mit den Kindern losfuhren.

Drei Millionen Menschen wurden mit der Reichsbahn in die Lager deportiert, junge und alte. Sie beschränken sich auf die deportierten Kinder. Warum?

Ein Großteil des Materials stammt noch aus der Zeit, als wir den Lischka-Prozess vorbereiteten. Das war in den siebziger Jahren, als wir auf die Verurteilung der französischen Hauptverantwortlichen für die Deportation der Juden in Frankreich hinarbeiteten. Für den Prozess hatten wir die Liste der deportierten Juden aus Frankreich zusammengestellt. Dann haben wir in den neunziger Jahren angefangen, Fotos von den 11 400 Kindern, die deportiert worden sind, zu sammeln. Ein bisher einzigartiges Projekt. Wir haben fast 4 000 Fotos, können 4 000 Kindergesichter zeigen. Wir haben dafür in mühsamer Arbeit die Fotos von Überlebenden und von den Familien gesammelt. Oder auch die Fotos von Grabsteinen abfotografiert, weil die Angehörigen der Ermordeten manchmal mit Fotos an die Deportation erinnerten, da waren dann auch Kinderfotos dabei. Wir haben sie wirklich von überall bekommen, was eine unglaubliche Arbeit war. Aber natürlich ist eine ähnliche Ausstellung mit Fotos von älteren Juden denkbar, wenn man die Fotos hat.

Wir haben die Ausstellung auch noch um besondere Rubriken ergänzt. Wir haben eine Tafel ausschließlich mit Kindern, die ein Buch in der Hand halten, denn viele hatten ihre Lektüre dabei. Außerdem haben wir auch noch auf jedem Bahnhof dargestellt, was in der jeweiligen Gegend geschehen ist. Also die Kinderheime, die es dort gab, aus denen die jüdischen Kinder direkt deportiert wurden. So haben wir einen Teil der Ausstellung den Kindern von Izieu, also den Kindern gewidmet, die von Klaus Barbie deportiert wurden, und auch von den Kindern, die Alois Brunner deportiert hat.

»Die Kinder von Izieu« wurden 1994 von dem Liedermacher Reinhard Mey besungen. Wird eine emotionalisierende Darstellung dem Thema gerecht?

In der Öffentlichkeit ist es nicht genügend bekannt, dass Kinder direkt in die Gaskammern gebracht wurden. Es gibt immer noch die Vorstellung, dass die Juden zum Arbeitseinsatz deportiert wurden. Insbesondere aus Frankreich, aber auch aus den anderen Ländern wurden die Kinder nicht mit den Eltern gemeinsam deportiert, die Eltern wurden vorgeschickt und die Kinder getrennt deportiert. Damit es nicht den Eindruck von reinen Kindertransporten machte, wurden diese Kinder dann mit anderen jüdischen Erwachsenen zusammen deportiert.

Die Fotos zeigen die Opfer, sie sagen nichts aus über die Täter und das System. Wie stellen Sie den historischen Kontext her?

Jedes Foto wird natürlich von einem Text begleitet. Wir haben von vielen Kindern auch Briefe, die die Situation beschreiben. Zum Beispiel von einem Jungen der Familie Bernstein. Das waren Berliner Schokoladenfabrikanten, von denen einige nach Palästina ausgewandert sind. Der Junge hat noch einen Brief geschrieben, in dem er schildert, wie er in Paris auf der Rue de la Pompe von der Gestapo festgenommen wurde. Es gibt auch Briefe, die aus dem Zug geworfen wurden. Das sind Briefe von Kindern, die in Nancy sind und die genau wissen, was geschieht. Sie schreiben, dass Mutter und Tante noch draußen sind und der Vater schon weg ist, sie hier sitzen, heute ihr Geburtstag ist und sie fürchterlich weinen. Das hat die Leute wirklich erschüttert, denn das ist eine Sache, die sich die Leute vorstellen können.

Bahnhöfe sind Konsumtempel mit Shops, Bistros, Videoleinwänden. Ist die Ausstellung in diesem Kontext gut platziert?

Natürlich sind auch bei uns die Leute mit der Cola in der Hand durch die Ausstellung gegangen. Wir haben die Reisenden ja mehr oder weniger dazu gezwungen, sich die Fotos anzusehen. Es gehen weniger Menschen in ein Museum als auf den Bahnhof. Wer geht denn schon in das Nürnberger Eisenbahnmuseum, um etwas über den Holocaust zu erfahren? Man muss versuchen, den Menschen den Holocaust dort nahe zu bringen, wo er stattgefunden hat. Darum besuchen Schulklassen Auschwitz. Selbstverständlich ist die Vorbereitung in den Klassen wichtig, die Deportation und Vergasung der Juden wird aber nur an Ort und Stelle des Holocaust wirklich verständlich.

Nach einer jüngeren Studie neigen in Deutschland rund 14 Millionen Menschen rechten, rassistischen oder antisemitischen Einstellungen zu. Sind Sicherheitsbedenken, wie sie Mehdorn geltend macht, wirklich unberechtigt?

Das Sicherheitsproblem diente Mehdorn als Argument, um die Ausstellung nicht zeigen zu müssen. Wir waren in Frankreich bisweilen mit dem Vorwurf konfrontiert: Warum zeigt ihr jüdische Kinder und keine palästinensischen? Warum nicht, was in Israel vorgeht? Diese Argumente werden heute gegen die Aufarbeitung der Shoah angeführt. Ich glaube dennoch, dass die Ausstellung Menschen dazu bringt, zu verstehen, was wirklich geschehen ist, und dass sie helfen kann, Rassismus und Antisemitismus abzubauen.

Haben Sie mit Mehdorn persönlich gesprochen?

Nur mit der Historikerin der Deutschen Bahn, Susanne Kill, die ich vor fast drei Jahren das erste Mal im DB-Haus am Potsdamer Platz getroffen habe. Damals habe ich ihr auch den Vorschlag gemacht, eine Ausstellung über die Deportation der jüdischen Kinder in den Bahnhöfen zu zeigen. Dann entbrannte dieser Streit, und es gab die Anschuldigungen, dass ich einen Skandal entfachen wolle und eine Pädagogik des »Shock and Go« vertrete.

Die Ausstellung soll am 27. Januar 2008 eröffnet werden. Was passiert in den kommenden zwölf Monaten? Wie geht es weiter?

Am 27. Januar 2007, dem Holocaust-Gedenktag, wird es eine Demonstration geben. Wir werden deutlich machen, dass wir die Ausstellung in den Bahnhöfen zeigen wollen und dass wir sie auch so konzipieren wollen, wie wir uns das vorstellen.

interview: kerstin eschrich und heike runge