»Wir haben einen radikalen Begriff von Schönheit«

Lee Ranaldo

Lee Ranaldo gründete vor 25 Jahren gemeinsam mit Thurston Moore und Kim Gordon die Band Sonic Youth. Das Magazin Rolling Stone verzeichnet ihn auf Rang 33 auf der Liste der besten Gitarristen aller Zeiten. Wie auch die anderen Bandmitglieder ist Ranaldo studierter Künstler. Neben Sonic Youth arbeitet er mit Jazzbands und experimentellen Musikern, macht Filmmusiken, veröffentlicht Soloalben und schreibt Bücher.

Das neue Album von Sonic Youth, »Rather Ripped«, erschien kürzlich bei Universal / Geffen. Doris Akrap und Tilman Clauß trafen Lee Ranaldo am Wochenende, kurz nach dem Soundcheck für das einzige Konzert, das die Band auf ihrer derzeitigen Tour in Deutschland gab.

In der Pressemitteilung zu eurer neuen Platte »Rather Ripped« ist von »Poppunk« die Rede. Ist das eine adäquate Beschreibung eurer Musik?

Ich würde sie nicht so nennen. Aber es stimmt schon, die Songs haben eine traditio­nellere Struktur, es gibt eine Leadgitarre und weniger experimentelle und noisy Passagen. Das wiederum war für uns ein experimenteller und radikaler Schritt. Und dieses Album ist direkter, als es Platten von Sonic Youth normalerweise sind, es geht mehr nach vorne.

Wollt ihr den Popfaktor erhöhen?

Nein. Aber die Noise-Musik ist ja zu einem richtigen Genre geworden. Diesen Stil, den wir beeinflusst haben, haben wir dieses Mal draußen gelassen. Es ist schon amüsant, denn »Rather Ripped« ist das letzte Album bei dem Label Universal / Geffen Records. Unser Vertrag läuft aus. Ausgerechnet jetzt machen wir keine völlig chaotische, radikale Platte. Das war nicht geplant, es ist einfach passiert, du kannst nicht vorherbestimmen, wie eine Platte wird.

Was bedeutet »radikal« bei Sonic Youth? Spielen Emotionen wie Wut eine Rolle, wenn ihr Musik macht?

Keine allzu große. Ich glaube, dass unsere Musik manchmal gewalttätig ist, aber in einem kathartischen Sinne, dass also etwas freigesetzt wird. Viel wichtiger ist für uns das Gegenteil von Wut: die Freude. Die enorme Freude nämlich, die uns selbst die Musik bereitet. Wir empfinden es als sehr befreiend, diese extreme Musik zu machen, bei der wir uns von einem radikalen Begriff von Schönheit leiten lassen. Zumindest wir halten das, was wir machen, für sehr schön. Sogar dann, wenn es sich für manchen hässlich anhören mag, sind wir auf der Suche nach einer anderen Idee von Schönheit.

Die Idee von Schönheit ist auch eine Idee von Jugend. »Teen Age Riot« hieß ein Song auf eurem Album »Daydream Nation« von 1988. 14 Jahre später, auf »Murray Street«, singt ihr von »Radical Adults«. Ist für Sonic Youth das »radikale Erwachsensein« die andere Idee von Schönheit?

Bei der Gründung von Sonic Youth waren wir schon Mitte zwanzig, also nicht mehr sehr jung. Der Name sollte die geistige Bedeutung von Jugend betonen, die Quelle der Inspiration. Der radikale Aspekt bestand für uns nicht darin, schöne Musik von schönen jungen Menschen zu spielen. Für uns waren jene Künstler interessant und vorbildlich, die älter wurden und trotzdem radikal blieben. Radikalität altert nicht, sie bedeutet, einen reflektierten Blick auf die Gesellschaft zu haben.

Ein Beispiel für einen solchen »radikalen Erwachsenen«?

Bob Dylan. Er hat seine Visionen nie kom­promittiert. Er wird für unser Jahrhundert die Bedeutung eines Shakespeare haben. Er ist einer meiner größten Helden, und gerade kreuzt er permanent mein Leben. Derzeit arbeite ich an der Filmmusik für ein surrealistisches Projekt von Todd Haynes, dem Regisseur von »Velvet Goldmine«. Acht Schauspieler schlüpfen in die Figur Bob Dylan. Ich spiele die Musik für Cate Blanchett.

Wie bewertest du aktuelle Jugendbands wie The Strokes?

Als wir vor ein paar Jahren in England spielten, fragte man uns nach dieser Band. Die Jungs lebten in unserer Stadt, aber wir hatten noch nie von ihnen gehört, hatten keine Vorstellung, wer das war. Der Hype um die Band war völlig außer Kontrolle geraten.

Musik zu machen, war für uns Arbeit, Arbeit, Arbeit, Jahre lang mit einem kleinen Bus im SST-Style durch das Land touren. Wir haben 15 Jahre gebraucht, um ein derartiges Feedback zu bekommen, wie es die Strokes mit nur einer Platte geschafft haben. Das ist eine andere Welt. Die Welt der Unterhaltungskultur. Auch wenn wir Unterhalter sind, fühle ich mich nicht als Teil dieser Welt.

Euer Song »Youth against fascism« aus dem Jahr 1992 war für viele Linke auch in Deutschland sehr wichtig. In diesem Land brannten die Flüchtlingsheime, und ihr gabt den Leuten eine Anti-Hymne des Hasses auf diese Zustände. Würdet ihr heute einen Song »Radical Adults against fascism« machen?

Wir sind eigentlich keine politische Band im engeren Sinne. Unsere Texte sind nicht offen politisch. Die Musik kommt bei Sonic Youth zuerst, für Wörter müssen wir in unserer Musik überhaupt erst einmal Platz finden.

Als wir den Song »Youth against fascism« machten, war die erste Bush-Regierung an der Macht, es war die Zeit des Ersten Golfkriegs und der Nazi-Übergriffe in Deutschland, die wir durchaus beobachteten. Eine extrem rechte Gesinnung machte sich breit. Wir kamen geradewegs aus den Achtzigern, aus dem Alptraum der Rea­gan-Ära. Wir dachten, wir hätten das hinter uns gelassen, doch es ging weiter. Ein großer Teil der Underground-Musik war eine Reaktion auf diese Zeit. Deshalb heißt der Refrain des Songs auch »The song I hate«. Wir haben es gehasst und hassen es noch, immer über diesen Kram reden zu müssen.

Du lebst in New York, hast den 11. September miterlebt. In einem Buch hast du deine Eindrücke über das Leben in der Stadt nach den Anschlägen zu Papier gebracht. Ein musikalisches Statement von Sonic Youth gab es dazu nicht.

Nein, aber New York fühlt sich heute wieder so an wie früher. Es ist allerdings etwas Neues hinzugekommen, eine globale Schwere. Die terroristische Bedrohung steht vor jeder Haustür, auch in Europa. Aber New York absorbiert alles, verarbeitet alles und schafft es immer, irgendwie weiterzumachen. Eine erstaunliche Stadt.

Sonic Youth hat den New Yorker Underground der achtziger Jahre stark beeinflusst. Ist die Stadt noch der Ort des kreativen Underground? Der berühmte Club CBGB hat kürzlich geschlossen, überall gilt striktes Rauchverbot …

Läden schließen, Rauchen wird verboten. Diese Dinge sind nebensächlich, so etwas passiert im Leben einer jeden Stadt. Ich trauere dem nicht nach. Mein Viertel war früher voller Künstler und ist jetzt voller Banker. Das ist zwar langweiliger, aber das ist ein globales Phänomen. Der Charakter einer Stadt ist nicht an solche Dinge gebunden. New York ist lebendig, hier werden sich immer Kreative und Künstler treffen, sich austauschen und ihr Statement abgeben.

Gilt das auch für Berlin?

Klar. So wie Berlin war auch New York eine Enklave. Deshalb haben die New Yorker auch eine so starke Affinität zu Berlin. Bei meiner ersten Rock’n’Roll-Tour bin ich mit Glenn Branca im SO 36 in Kreuzberg aufgetreten. Die Einstürzenden Neubauten, die sich gerade gegründet hatten, spielten als Vorband, ich glaube, es war eines ihrer ersten Konzerte überhaupt. Sie und viele andere hier wurden unsere Freunde.

Aber die Mauer ist weg, Berlin ist keine Enklave mehr.

Stimmt, auch die Konzentration des Underground in New York ist vorbei. Heute gibt es überall in den USA gute Undergroundbands. Aber im Unterschied zu Berlin ist New York tatsächlich eine Insel und hat sich vielleicht auch deshalb etwas von dieser Mentalität bewahrt. Selbst wenn überall Filialen von großen Shops entstanden sind und die Reichen in die ehemaligen Armenviertel ziehen, bleibt es eine gigantische Stadt auf einer kleinen Insel.