Klassenarbeit!

Probleme des Kampfes im Zeitalter der Prekarisierung – Zahlen, Daten, Einschätzungen. Von Tom Binger

Ganz gleich, ob Wischmopp oder Laptop ihr Arbeitsinstrument ist, ob sie als hoch bezahlte Freelancer im IT-Bereich jobben oder sich als illegale Putzfrauen für ein paar Euro verdingen müssen, die Linke hat den »Homo precarius« als neues Subjekt entdeckt.

In 18 europäischen Städten, von Amsterdam über Barcelona, Berlin, Hamburg und Mailand bis nach Sevilla und ins finnische Jyväskylla machte im vergangenen Jahr am 1. Mai die bunte Menge der Prekarisierten zum »Euromayday« mobil. Die lustbetonten Mayday-Paraden verstehen sich als Alternative zu den ritualisierten Maidemonstrationen der Gewerkschaften.

Auch andere Kämpfe reagieren auf das beschleunigte Wachstum prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Sie reichen von den erfolgreichen Schüler- und Studentenprotesten gegen die Aufhebung des Kündigungs­schutzes für Berufsanfänger und dem monatelangen Streik der prekären Kulturarbeiter und Kulturarbeiterinnen in Frankreich über den europaweiten Aktionstag von Praktikanten und Praktikantinnen am 1. April 2006, den Kämpfen von Migrantinnen und Migranten gegen ihre Illegalisierung und für ein »Recht auf Rechte«, den Protesten der so genannten Chainworkers in Mailand bis hin zum Auftritt des »heiligen Prekarius« beim Papstbesuch in Köln. In ganz Europa gibt es eine Vielzahl von Kämpfen gegen die umfassende Verunsicherung des menschlichen Daseins.

Ob die verallgemeinerte Unsicherheit der Arbeits- und Lebensbedingungen bereits eine ausreichende Basis für die Entstehung eines neuen sozialen Subjektes darstellt, ist jedoch umstritten. Manch orientierungsloser Linksradikaler sieht im »Prekariat« bereits die direkte Nachfolgeorganisation des Proletariats.

Selbst der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher entdeckt ein neues »intellektuelles Proletariat aus freischaffenden, immateriellen Arbeitern«, und auch der Göttinger Politikwissenschaftler und Parteienforscher Franz Walter sieht in den »Deklassierten der Wissensgesellschaft«, im »akademischen Subproletariat« der hoch qualifizierten, »blockierten Gegeneliten«, die potenziellen Träger einer Revolte gegen die neue Klassengesellschaft und soziale Desintegration (Spiegel online, 7. Mai 2006).

Nachdenklichere Stimmen warnen davor, vorschnell die Einheit aller über Gebühr Ausgebeuteten zu halluzinieren. »Das Drama der Prekarität besteht darin, eben nichts gemeinsam zu haben: keine gemeinsame Arbeitszeit, keinen Ort, an dem gemeinsam gearbeitet wird, und keine Handlung, die gemeinsam verrichtet werden würde«, schrieben Susanne Lang und Florian Schneider in der Zeitschrift Arranca! (Ausgabe 31/Frühjahr 2005). Ingo Stützle wies im Juli im Neuen Deutschland darauf hin, mit dem Begriff des Prekariats würden vorschnell Widersprüche und Unterschiede eingeebnet, etwa die zwischen der illegalen weiblichen Putzkraft und dem männlichen Werbegrafiker mit Hochschulabschluss.

Dabei sind gerade die völlig unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und die Vielzahl von sozialen Abstufungen, von einem subproletarischen bis zu einem hoch qualifizierten Prekariat, das größte Hindernis für solidarische Aktionen und die Formulierung gemeinsamer politischer Forderungen. Die extreme Heterogenität der prekarisierten Klasse sei der Hauptgrund für die Brüchigkeit ihres politischen Zusammenhalts, meinte Enno Stahl in der Jungle World (17/06).

Spaltung des Arbeitsmarkts

Die meisten aktuellen Diagnosen sind sich darin einig, dass die Prekarisierung inzwischen selbst zur Normalität geworden ist. Immer mehr Menschen müssen ihr Geld als Leih- oder Zeitarbeiter, als befristet Beschäftigte, Teilzeitkräfte, (Schein-)Selbständige, Ich-AGs, Minijobber oder Ein-Euro-Arbeitsdienstler verdienen.

Zwei Drittel aller neuen Jobs werden hierzulande zunächst befristet vergeben. Während die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit Anfang der neunziger Jahre kontinuierlich sinkt, wächst gleichzeitig der Anteil so genannter atypischer Beschäftigungsformen.

Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit ging zwischen 1991 und 2005 bei einer annähernd konstanten Zahl von Erwerbstätigen der Anteil sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung um 13 Prozent zurück, oder anders gesagt von 30 auf gut 26 Millionen Menschen, wie Elisabeth Niejahr in der Zeit schrieb.

Gut ein Drittel aller abhängig Beschäftigten arbeitet mittlerweile in verschiedenen Formen atypischer Arbeit. Atypische Beschäftigung wird dabei in negativer Abgrenzung zum Normalarbeitsverhältnis definiert, das sich vor allem durch unbefristete Vollzeittätigkeit, ein existenzsicherndes Einkommen und die volle Integration in die sozialen Sicherungssysteme auszeichnet.

Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung und Leiharbeit sind dagegen die wichtigsten Formen atypischer Beschäftigung. Mit über sieben Millionen Betroffenen liegt allein der Anteil der Teilzeitarbeit bei 23 Prozent der Gesamtbeschäftigung. Zum größten Teil handelt es sich dabei um »geringfügig Beschäftigte« mit einem Monatsverdienst bis 400 Euro (Minijobs) bzw. bis 800 Euro (Midijobs).

Durch die Hartz-Gesetze ist ihre Zahl von 4,1 Millionen (Anfang 2003) auf 6,7 Millionen (2005) gestiegen. Die Zahl der befristet Beschäftigten ist mit insgesamt 2,25 Millionen Menschen nur moderat auf acht Prozent der Gesamtbeschäftigung angewachsen. Hinzu kommen 400 000 Leiharbeiter, deren Anteil trotz starker Steigerungsraten nur bei 1,3 Prozent der Beschäftigten liegt (Angaben nach: Berndt Keller, Hartmut Seifert: Atypische Beschäftigungsverhältnisse: Flexibilität, soziale Sicherheit und Prekarität. In: WSI Mitteilungen 05/2006).

Die starke Ausweitung atypischer Beschäftigung wurde durch gesetzliche Deregulierungsmaßnahmen wie das Beschäftigungsförderungsgesetz, das Teilzeit- und Befristungsgesetz und nicht zuletzt durch verschiedene Projekte der Hartz-Gesetze gezielt gefördert. Das Resultat ist eine fundamentale Krise der sozialen Sicherungssysteme, die nach wie vor auf Beiträgen aus der Erwerbsarbeit und insbesondere dem Normalarbeitsverhältnis aufbauen.

Die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger durch sozialversicherungsfreie bzw. -reduzierte Beschäftigung bewirkt zwangsläufig eine Zerstörung der beitragsfinanzierten Systeme sozialer Sicherung. Mit der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung sind von dieser Finanzkrise die wichtigsten sozialen Absicherungen bei Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und im Alter betroffen.

Das überproportionale Wachstum prekärer Beschäftigungsverhältnisse beweist, dass sich der neue flexible Kapitalismus anscheinend dauerhaft vom Leitbild des klassischen Normalarbeitsverhältnisses verabschiedet hat. Die neuen Formen der chronischen Unterbeschäftigung finden in der »Generation Praktikum«, in unfreiwilliger Teilzeitarbeit, befristeter Arbeit und Niedrig­lohnverhältnissen ihren Ausdruck.

In einem gespaltenen Arbeitsmarkt werden prekäre Jobs zu einem Massenphänomen. Für den französischen Sozialwissenschaftler Robert Castel ist »Prekarität weder etwas Marginales noch etwas Temporäres. Es ist ein stabiles, chronisches, objektives Phänomen«, wie er in einem taz-Interview im September äußerte. Auch die verbleibenden Normalarbeitsverhältnisse werden über Leih- und Zeitarbeit, Niedriglohntarife sowie Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen prekär durchsetzt.

Obwohl die Prekarität also längst in der Mitte des Arbeitsmarkts angekommen ist, wird sie zumindest von den deutschen Gewerkschaften noch weitgehend ignoriert. So ging hierzulande im November 2005 im Gegensatz zum französischen Aufstand die gesetzliche Verlängerung der Probezeit für Berufsanfänger auf zwei Jahre nahezu ohne Proteste über die Bühne. Auch mit ihren aktuellen Kampagnen zur Verteidigung von Mitbestimmung, Tarifautonomie und Kündigungsschutz bleiben die Gewerkschaften weitgehend an den Interessen der Kernbelegschaften orientiert.

Die Abschottung gegenüber neuen Beschäftigtengruppen mündet zwangsläufig in eine Krise der traditionellen Formen der gewerkschaftlichen Interessensvertretung. Solange sie unsichere Arbeitsverhältnisse nur als Konkurrenz zum Normalarbeitsverhältnis wahrnehmen und prekären Beschäftigten keine Organisations- und Vertretungsangebote machen, wird sich der Einfluss der Gewerkschaften mit der Ausweitung der Prekarisierung weiter reduzieren.

Arm trotz Arbeit

Die mit der Ausweitung prekärer Beschäftigung verbundene Senkung des allgemeinen Lohnniveaus führt dazu, dass der Lohn immer häufiger nicht mehr die Reproduktion der Arbeitskraft garantiert. Die gegenwärtigen Debatten über einen gesetzlichen Mindestlohn und die verschiedenen Kombilohnmodelle verdeutlichen die Virulenz des Problems nicht existenzsichernder Löhne.

Der Niedriglohnsektor ist längst in der Mitte des Arbeitsmarkts angekommen und in die ganz normale Betriebs- und Bürorealität eingegangen. Obwohl die Zahlen je nach Definition und Datenlage erheblich differieren, sind sich alle aktuellen Untersuchungen darüber einig, dass der Niedrig­lohnsektor nicht nur wächst, sondern sich auch zu einem Dauerphänomen verstetigt.

Nach einer neuen Studie des Gelsenkirchener Instituts für Arbeit und Technik (IAT) arbeiteten im Jahr 2004 sechs Millionen Menschen bzw. 21 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland für weniger als zwei Drittel des so genannten Medianlohns (IAT-Report 03/2006). Der Medianlohn markiert genau die Mitte zwischen den oberen und den unteren 50 Prozent der Einkommensskala und relativiert so den Einfluss der extrem hohen Einkommen an der Spitze der Hierarchie.

Drei Millionen Bezieher von Niedriglöhnen sind Vollzeitbeschäftigte, die im Westen weniger als 9,83 Euro brutto und im Osten weniger als 7,15 Euro brutto pro Stunde verdienen. Gut 40 Prozent der Niedriglohnbezieher bzw. 2,6 Millionen abhängig Beschäftigte arbeiten sogar für Armutslöhne unter 50 Prozent des Medianentgelts. Nach den Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung gehört mit 7,84 Millionen Menschen sogar mehr als ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten zu den Geringverdienern.

Das WSI differenziert zwischen Prekär-löhnen, die zwischen 50 und 75 Prozent des Durchschnittslohns betragen, und Armutslöhnen, die unter 50 Prozent liegen. Danach erhalten 24 Prozent oder 5,3 Millionen aller Vollzeitbeschäftigten prekäre Löhne und zwölf Prozent oder 2,54 Millionen fallen sogar unter die Verdienstgrenze für Armutslöhne (Böckler Impuls 01 und 02/2006).

Der deutliche Anstieg des Niedriglohnbereichs korrespondiert mit einer Erosion der mittleren Einkommen und einem Zuwachs bei den hohen Löhnen. Entgegen den gängigen Vorurteilen gehören keineswegs nur die Problemgruppen des Arbeitsmarkts wie gering Qualifizierte, Jugendliche oder Migrantinnen und Migranten zu den Niedrigverdienern.

Niedriglöhne verteilen sich über alle Altersgruppen, Bildungsstufen und Qualifikationsniveaus. Zwei von drei Betroffenen haben eine Berufsausbildung abgeschlossen und zehn Prozent sogar ein Studium absolviert. Zwei Drittel aller Niedriglöhner sind älter als 30 Jahre. Ausländische Arbeitnehmer sind mit knapp neun Prozent kaum überrepräsentiert, während der Anteil der Frauen mit knapp über 70 Prozent immer noch extrem hoch ist (WSI-Mitteilungen 7/2003).

Auch über die verschiedenen Branchen und Wirtschaftssektoren gibt es eine relativ breite Streuung, allerdings konzentriert sich das Niedriglohnrisiko auf bestimmte Dienstleistungsbereiche. Führend ist die Gastronomie mit einem Niedriglohnanteil von über 70 Prozent. Bei den haushaltsbezogenen Dienstleistungen sieht es mit 65 Prozent nicht viel besser aus. Im Einzelhandel sind immerhin 31,4 Prozent aller Beschäftigten Geringverdiener (IAB Forschungsbericht 12/2006). Niedriglöhne sind keineswegs nur ein Kennzeichen für atypische Beschäftigungsverhältnisse. Häufig werden Armutslöhne tarifvertraglich geregelt. In 670 Tarifvereinbarungen liegen die untersten Tariflöhne unter sechs Euro brutto pro Stunde bzw. unter 1 000 Euro brutto im Monat.

Dies betrifft nach einer Studie der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt aus dem Jahr 2005 vor allem, aber nicht ausschließlich Ostdeutschland. Eine Friseurin in Sachsen verdient regulär 3,06 Euro pro Stunde, eine Floristin in Sachsen-Anhalt kommt auf 4,35 Euro, aber auch der Wachmann in Schleswig-Holstein erhält nicht mehr als 5,30 Euro, heißt es im WSI-Tarifarchiv vom März 2006.

»Die gewerkschaftliche Tarifpolitik selbst hat also zu einem guten Teil dazu beigetragen, dass der Niedriglohnsektor im Herzen des Normalarbeitsverhältnisses angekommen ist«, schrieb Dirk Hauer schon 2004 in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Das Niveau der zumutbaren Arbeitsbedingungen und der Einkommenshöhe wurde auch gesamtgesellschaftlich abgesenkt.

Für die öffentlichen Haushalte wird der wachsende Armutslohnsektor langsam zu einem echten finanziellen Problem. Bereits im Jahr 2005 erhielten über 900 000 Beschäftigte ergänzende Leistungen nach dem neuen Sozialgesetzbuch II (SGB II). Die auf eine Ausweitung des Niedriglohnsektors zielenden Maßnahmen der Hartz-Gesetze und der staatlichen Arbeitsmarktpolitik, wie Mini- und Midijobs, Einstiegsgeld, Entgeltsicherung und Zuschüsse für ältere Arbeitnehmer funktionieren bereits jetzt wie ein Kombilohn, da sie die Arbeitgeber ganz oder teilweise von den Lohnkosten entlasten.

Das Arbeitslosengeld II hat über Zuverdienstmöglichkeiten und Ein-Euro-Jobs ebenfalls die Funktion eines Kombilohns. Der gesamte Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung ist durch staatlich organisierte Leiharbeit, die Zunahme gemeinnütziger Pflichtarbeit und die aktive Förderung von Mini- und Midijobs praktisch in einen einzigen großen Niedriglohnbereich umgewandelt worden.

Verschärft wird diese Entwicklung durch die Aufhebung aller Zumutbarkeitsgrenzen und durch die Koppelung der Grundsicherung im SGB II mit der Pflicht, jede angebotene Arbeit anzunehmen. Das staatlich subventionierte Lohndumping drückt das Lohnniveau insgesamt. Wenn der Staat zu niedrige Arbeitsentgelte aufstockt und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse steuerlich begünstigt, werden die Unternehmen von der Notwendigkeit entbunden, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen. Es entsteht ein öffentlich subventioniertes Sonderangebot an Arbeitskraft.

Über 85 Prozent aller Minijobber arbeiten zu Niedriglöhnen. Die Konkurrenz der Billiglöhner erhöht die Verzichtsbereitschaft aller Arbeitnehmer. Über den berüchtigten Drehtüreffekt werden reguläre Stellen durch subventionierte Niedriglohnarbeit und geringfügige Beschäftigung ersetzt. Die Senkung der staatlichen Transfereinkommen an und unter die Armutsgrenze – vgl. die aktuelle Diskussion um die Senkung des Regelsatzes beim ALG II – ist die Voraussetzung für die geplante weitere Ausweitung des Niedriglohnsektors.

Die Absenkung des öffentlich garantierten Existenzminimums durch die Hartz-IV-Maßnahmen und der direkte Angriff auf die Löhne und Arbeitsbedingungen, wie er sich in den vergangenen Jahren in den Kon­flikten bei Opel, VW, Siemens, Daimler-Chrysler etc. gezeigt hat, fallen also keineswegs zufällig zusammen. »Soziale Sicherheit als unbedingtes und unteilbares Grundrecht wird ersetzt durch eine prinzipielle Entgarantierung der Existenzsicherung«, so Hauer.

Abschied vom Normalarbeitsverhältnis

Die deutsche linke Debatte über prekäre Arbeit ist immer noch stark auf das »fordistische Normalarbeitsverhältnis« fixiert, als positiver Bezugspunkt. Atypische und ungesicherte Beschäftigung wird in Abgrenzung zu »normalen« Arbeitsverhältnissen definiert.

Doch bereits das arbeits- und sozialrechtlich geregelte und tarifvertraglich abgesicherte fordistische Normalarbeitsverhältnis ist durch soziale Spaltungen und Hierarchien charakterisiert. Es verkörperte keineswegs ein Modell sozialer Egalität, sondern privilegierte ein bestimmtes Segment der in der Regel männlichen weißen (Industrie-)Arbeiterschaft. Der Integration der Kernbelegschaften durch Tarifrecht, gewerkschaftliche Vertretung und solidarisches Handeln stand der Auschluss der Anderen durch Grenzziehung und limitierte Zutrittsrechte gegenüber.

Auch die klassische moderne Arbeiterklasse im Fordismus war also keineswegs ein homogener Block. Selbst in den goldenen Zeiten des »Wirtschaftswunders« haben Frauen, Arbeitsmigranten, Flüchtlinge sowie Wander- und Saisonarbeiter immer schon mehrheitlich unter prekären Bedingungen gearbeitet.

In einer globalen Perspektive war das fordistische Normalarbeitsverhältnis sowieso stets auf die Länder des reichen Nordens beschränkt. Auch in einer historischen Sicht beschränkte sich seine Gültigkeit auf eine drei Jahrzehnte währende Nachkriegs-prosperität in den kapitalistischen Kernländern (Vgl. Dirk Hauer in Analyse und Kritik, 494). Doch in dieser Zeit hat das historische Normalarbeitsverhältnis einem Teil der Beschäftigten ein regelmäßiges Einkommen und soziale Sicherheiten garantiert. Resultat dieser in sozialen Auseinandersetzungen erkämpften Standards war eine temporäre »Entproletarisierung der Arbeiterklasse«, wie Martin Dieckmann auf dem Buko-Kongress im Mai 2005 referierte.

Mit der Krise des fordistischen Akkumulationsmodells kehrte sich diese Entwicklung jedoch seit Mitte der siebziger Jahre um. In den achtziger Jahren wurde auch in den industriellen Großbetrieben die Arbeitskraft in Stamm- und Randbelegschaften zerlegt. Über Just-in-Time-Zulieferung, Out­sourcing und Subcontracting hielt die Prekarisierung in den traditionellen großindus­triellen Produktionsketten Einzug. Die Auslagerung bestimmter Dienstleistungen und Produktionsbereiche (lean production) ging in den großen Konzernen mit der Ausweitung von Leiharbeit und der Einführung befristeter Arbeitsverhältnisse einher.

In den neunziger Jahren traf es dann auch systematisch die verbleibenden Kerne der »zentralen Arbeiterklasse«. Der Produktionsprozess wurde in eine Vielzahl von Segmenten aufgespalten, die als selbständige unternehmerische Einheiten (profit center) auftraten und das kapitalistische Konkurrenzprinzip ins Innere des Betriebs implementierten. »Für die Macht der Arbeit hat das katastrophale Folgen: Sie implodiert«, so Dieckmann.

Der Kapitalismus verabschiedet sich vom Ausnahmezustand des Normalarbeitsverhältnisses und kehrt zurück zum Normalzustand der Prekarität.

Prekarität als Grundform

Dass es für diejenigen, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, prinzipiell keine garantierte Existenzsicherheit gibt, hat Karl Marx bereits vor 150 Jahren erkannt, als er feststellte: »In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dass er Pauper ist: virtueller Pauper.«

Ersetzt man den etwas antiquierten Begriff des »Paupers« durch den zeitgemäßeren Begriff des Prekären, hat dieser Satz eine erstaunliche Aktualität. Im Kapitalismus steht die Existenzsicherung unter dem prinzipiellen Vorbehalt eines erfolgreichen Verkaufs der Ware Arbeitskraft. Dass dies zu einem existenzsichernden Lohn gelingt, ist niemals sicher. »Prekarität ist also nicht mehr und nicht weniger als die Grundform von Lohnabhängigkeit«, so Dieckmann.

Nun nähern wir uns einer tragfähigen Definition des Begriffs der Prekarität. Unter Rückgriff auf das französische precarité, welches gleichzeitig »unsicher« und »widerruflich« bedeutet, macht Dieckmann hierzu folgenden Vorschlag: »Prekarität ist die Unsicherheit von Lebensverhältnissen durch die Widerruflichkeit des Erwerbs.«

Das historische Normalarbeitsverhältnis hat die Widerruflichkeit des Erwerbs nur vorübergehend relativiert. Der Prozess der Prekarisierung aktualisiert nun die fundamentale Verunsicherung aller Lebens- und Arbeitsbereiche in kapitalistischen Gesellschaften. Was wir heute als »Prekarität« und »Prekarisierung« bezeichnen, wurde historisch unter den Begriff der »Proletarität« gefasst.

Für den Historiker und sozialrevolutionären Theoretiker Karl-Heinz Roth sind die prekären Arbeitsverhältnisse deshalb auch das übergreifende Charakteristikum bei der »Wiederkehr der Proletarität« (Roth 1994). Gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden mehr Menschen als jemals zuvor proletarisiert. Die Wiederkehr der Proletarität führt jedoch keineswegs, wie Roth ursprünglich annahm, zu einer einfachen Angleichung aller Arbeits- und Lebensverhältnisse. Im Gegenteil: Die Proletarisierung geht mit neuen Hierarchisierungen und Spaltungen einher. Die mit der Prekarisierung verbundene Zerlegung des Produktions- und Arbeitsprozesses stellt die Möglichkeit kollektiver Erfahrung als Klassenerfahrung sogar grundsätzlich in Frage.

Auch Roth geht in neueren Veröffentlichungen, etwa im Supplement der Zeitschrift Sozialismus (05/2006), von einer »komplexen multikulturellen proletarischen Gemengelage« aus. Die optimistische Ausrufung eines »neuen Weltproletariats« ist prinzipieller Skepsis gewichen. »Eine breite Fragmentierung der Unterklassen hat eingesetzt, die nach oben zu den hoch qualifizierten Selbstständigen der IT-Sektoren und nach unten zur neuen Massenarmut aufschließen.«

Der sozialstaatlich abgesicherte großindustrielle Hochlohnarbeiter löst sich tendenziell in dieser neuen Proletarität auf. Robert Castel beschreibt denselben Prozess der Fragmentierung und Segmentierung der Klasse, indem er von einer Spaltung der Arbeitsgesellschaft in mehrere Zonen spricht.

Die »Zone der Integration« umfasst die verbleibenden geschützten Arbeitsverhältnisse. Die »Zone der Entkoppelung« schließt alle ein, die dauerhaft von regulärer Erwerbs­arbeit ausgeschlossen sind. Zur expandierenden »Zone der Prekarität« zählt die heterogene Vielzahl nicht dauerhaft die Existenz sichernder und jederzeit bedrohter Beschäftigungsverhältnisse. Dazu gehören Zeit- und Leiharbeit, abhängige Selbständigkeit, befristete Beschäftigung, Mini- und Gelegenheitsjobs genauso wie reguläre Beschäftigungsverhältnisse mit Tarif-Armuts- und Niedriglöhnen.

Die neuen Varianten des Arbeitsdienstes in Gestalt der Ein-Euro-Jobs und die vielfältigen Formen informeller Arbeit markieren den Übergang zur »Zone der Entkoppelung«. Prekarität bedeutet also keineswegs absolute Verelendung und Pauperisierung. Prekäre Erwerbstätigkeit unterläuft vielmehr die gesellschaftlich gültigen Einkommens-, Schutz- und Integrationsstandards und senkt dadurch das Niveau sozialer Integration.

Die prekär Beschäftigten befinden sich in einer »eigentümlichen Schwebelage«, schreiben Klaus Dörre und Tatjana Fuchs in Z - Zeitschrift für marxistische Erneuerung (63, 09/2005): Einerseits bemühen sie sich um Anschluss an die »Zone der Integration«. Andererseits droht ihnen der dauerhafte Absturz in die »Zone der Entkoppelung«. Die Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit reicht bis in die »Zone der Integration«.

Schon die bloße Anwesenheit prekär Beschäftigter im Betrieb wirkt disziplinierend auf die Stammbelegschaften. »Die Prekarisierung wirkt desintegrierend und zugleich als disziplinierende Kraft. Sie ist ein Macht- und Kontrollsystem, dem sich in den gespaltenen Arbeitsgesellschaften auch die formal Integrierten nicht zu entziehen vermögen«, so Dörre und Fuchs weiter.

Prekarisierung ist also kein Phänomen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft, sondern sie steht für den Übergang zu einem neuen gesellschaftlichen Integrationsmodus. Die Einbindung über materielle Teilhabe wird von der Disziplinierung durch Markt und Konkurrenz ersetzt. Die permanente Gefährdung der materiellen Existenz durch eine nicht existenzsichernde Entlohnung und die damit einhergehende Unsicherheit im Hinblick auf jegliche längerfristige Lebensplanung sind der entscheidende subjektive Aspekt der Prekarisierung.

Prekäre Emanzipation

Wenn »die Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, so widerwärtig er auch sein mag« (Pierre Bourdieu), alle weitergehenden Ansprüche überschattet, wenn das Streben nach existenzsichernder Entlohnung die Fragen nach Sinn und Qualität der Arbeit ersetzt, dann ist es um die Emanzipation schlecht bestellt.

Entgegen mancher linker Wunschbilder ist die Prekarisierung zunächst der Ausdruck eines verschärften Klassenkampfs von oben. Sie schafft für die meisten Betroffenen keine neuen Freiheitsspielräume, sondern verschärft Arbeitszwang, Leistungsdruck und familiäre Abhängigkeiten. Für ein gemeinsames Widerstandsverhalten fehlt dann oft die materielle und soziale Basis. »Existenzangst schürt Konformismus«, meinen skeptisch J.D. Tussle und Lieselotte Hubbub in ihrem Aufsatz »Prekäre Zeiten in der Linken« (im Netz u.a. auf trend.infopartisan.net/trd0406/t330406.html).

Der verschärfte soziale Angriff verbaut auch bisher in der Linken gern genutzte Nischen für die Flucht aus dem Fabrik- oder Büroalltag. Dirk Hauer stellte im express (06-07) zu Recht fest, dass die linke Debatte in Deutschland über Prekarisierung »hochgradig identitär geprägt« ist. Das akademische Projekte- und Selbständigenproleta­riat hat vielleicht das kulturelle und soziale Kapital, um mit der Verunsicherung der eigenen Existenz souverän umzugehen und unter dem Stichwort flexicurity die soziale Absicherung der flexibilisierten Berufskarriere einzufordern.

Für die Lidl-Verkäuferin, die illegalisierte Putzfrau oder den arbeitslosen 50jährigen Industriefacharbeiter stellt sich die Situation grundlegend anders dar. Ohne die Einbeziehung dieser realen sozialen Spaltungen und Hierarchien bleibt, so Hauer, »die Vereinheitlichung von Laptop und Putzmopp (…) in höchstem Maße voluntaristisch«.

Auch wenn Prekarität keine neue Identität schafft, hat der Begriff doch das strategische Potenzial, mögliche gemeinsame Kämpfe von Prekären, »Überflüssigen« und regulär Lohnarbeitenden begründen zu können. Allerdings zeigen die Schwierigkeiten bei der Aufhebung bisheriger Trennungen zwischen Montagsdemonstrationen, aktuellen Streikbewegungen, wie denen bei Opel, AEG oder Daimler, und linken Kampagnen wie Agenturschluss oder dem Euro-Mayday, dass es keine automatische Entwicklung hin zu einem gemeinsamen Widerstand gibt.

Gemeinsamer Widerstand bedarf auch einer gemeinsamen politischen Perspektive. Die in den Gewerkschaften und in der traditionellen Linken immer noch dominante Orientierung am zerbröselnden Normalarbeitsverhältnis und dem Ziel der Wiederherstellung von Vollbeschäftigung ist dafür komplett unbrauchbar. Roth meint: »Wir sollten uns von den Vorstellungen eines sozialstaatlichen Zurück zur Lohnarbeitsgesellschaft und einer damit verknüpften Wiederherstellung ihrer kollektiven Repräsentationen in Gestalt von nationaler Einheitsgewerkschaft und politischer Partei verabschieden.«

Der Ausgangspunkt einer offensiven Gegenperspektive kann nur das unbedingte Recht auf eine menschenwürdige Existenz sein. Wenn Lohnarbeit die Existenzsicherung von immer mehr Menschen nicht mehr dauerhaft sichert, »dann ist die Existenzsicherung unabhängig von Arbeit zwingend notwendig« (Hauer). Ein bedingungslos für alle garantiertes Grundeinkommen als Mittel gegen den verschärften Arbeitszwang, eine radikale Arbeitszeitverkürzung als Hebel für eine weitreichende Umverteilung der Arbeit sowie ein existenzsichernder gesetzlicher Mindestlohn als Instrument gegen Armutslöhne könnten als konkrete Forderungen gegen den wachsenden Prekarisierungsdruck eine gemeinsame Kampfperspektive von Erwerbslosen, Prekarisierten und noch regulär Beschäftigten begründen.

Ein gesetzlicher Mindestlohn müsste allerdings klar über den von Verdi geforderten 7,50 Euro pro Stunde liegen, die bei einem Monatsgehalt von 1 250 Euro brutto die derzeitige Schwelle für Niedriglöhne deutlich unterschreiten. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen muss deutlich über Hartz-IV-Niveau liegen und eine wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermöglichen.

Erst auf der Basis einer gesicherten materiellen Existenz – gleich ob mit oder ohne Arbeit – wird eine weitgehende Verkürzung der Arbeitszeit und die damit einhergehende Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit wirklich attraktiv.

Die Systeme sozialer Sicherung müssen sich vom Versicherungsprinzip und der Anbindung an die Erwerbsarbeit lösen und den Anspruch auf das soziale Existenzrecht unabhängig von der Bereitschaft oder Fähigkeit zur Lohnarbeit garantieren. Der Kampf um die Wiederaneignung des privatisierten sozialen Reichtums und der Ausbau einer für alle frei zugänglichen sozialen Infrastruktur in den Bereichen Wohnen, Bildung, Gesundheit und Mobilität liefern wichtige Orientierungspunkte.

Voraussetzung für eine solche »Politik der Entprekarisierung« wären Projekte und Ideen für eine »Selbstorganisation der vermeintlich Unorganisierbaren« (Dörre/Fuchs). Die Workers-Center-Initiativen und die Janitors-Bewegung in den USA können genauso wie Kämpfe von prekär Beschäftigten in Frankreich, Spanien und Italien in der tristen deutschen Realität durchaus als Orientierung dienen.

Eine neue politische Klassenzusammensetzung kann jedenfalls nur das Resultat realer sozialer Kämpfe sein. Die Massenbedürfnisse nach selbstbestimmten Tätigkeiten und sozialer Subjektivität könnten dabei als Ausgangspunkt dienen. »Jede Art von Klassenbildung und Neuzusammensetzung ist vor allem ein Prozess, ein Prozess der kollektiven Subjektivierung, ein ›Making of the working class‹, wie es E. P. Thompson ausgedrückt hatte«, so Dirk Hauer.

Der Artikel erschien zuerst unter dem Titel »Voll prekär – total normal? Arbeitsrealitäten wahrnehmen« im »Jahrbuch Arbeit und Menschenwürde« der wissenschaftlichen Arbeitsstelle des Nell-Breuning-Hauses.

Literatur

Böckler Impuls 01/2006 & 02/2006. www.boeckler.de

Pierre Bourdieu: Die zwei Gesichter der Arbeit. Konstanz 2000

Robert Castel: Metamorphosen der sozialen Frage. Konstanz 2000

Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEW 42, Berlin 1983

Karl-Heinz Roth: Die Wiederkehr der Proletarität. Köln 1994

WSI-Tarifarchiv vom März 2006, www.boeckler.de