Die Hessen-Hillary

Für die SPD ist Andrea Ypsilanti eine Linke, für die Linke ist sie vor allem pragmatisch. Ein Porträt von pascal beucker

Andrea Ypsilanti ist nicht zu beneiden. Als wäre ihre Aufgabe als Herausfordererin des amtierenden Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) nicht schon schwer genug, muss sich die hessische Vorsitzende der SPD in diesen Tagen auch noch mit dem Dilettantismus der eigenen Partei herumschlagen. Ausgerechnet in der Landes­hauptstadt blamierten sich die Sozialdemokraten Ende der vergangenen Woche: Bei der Oberbürgermeisterwahl im März wird die SPD zuschauen müssen, weil die Wiesbadener Parteiführung es schlicht­weg verbummelte, ihren Kandidaten Ernst-Ewald Roth rechtzeitig anzumelden.

Ypsilanti, die 49jährige Kandidatin der SPD für das Amt des Ministerpräsidenten, hatte zu jenem vom Bundesvorsitzenden Kurt Beck angeführten Wahlkampftross gehört, der zur Unterstützung des nunmehr verhinderten OB-Kandidaten Anfang Dezember den Wiesbadener Sternschnuppenmarkt besuchte – und dort auf jenen Arbeitslosen traf, dem Beck sein schlichtes reaktionäres Weltbild mitteilte: »Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job.«

Ypsilanti würde ein solcher Satz nie über die Lippen kommen. Dafür ist sie zu sehr Sozialdemokratin. Und zwar im klassischen Sinne. Sie gehört zu jener seltenen Spezies, die nach der Ära Schröder meist eher verächtlich »Traditionalisten« genannt werden. Roland Koch drückte es kürzlich in einem Interview so aus: »Frau Ypsilanti ist eine Kandidatin, die fast fundamentalistisch linke Positio­nen in der SPD vertritt, die selbst von der Bundespartei seit vielen Jahren abgelehnt werden.« Mit ihrer »ziemlich aggressiven, negativen Einstellung gegenüber allem Unternehmerischen« versuche sie, den Unternehmen »das Leben möglichst schwer zu machen«. So schnell kann’s gehen, wenn eine SPD-Funktionärin heutzutage von sich zu behaupten wagt, »nicht die Genossin der Bosse, sondern der Verkäuferinnen bei Rewe« zu sein.

»Ich bin eine Parteilinke mit Bereitschaft zum Prag­matismus«, sagt Ypsilanti über sich selbst. Ihre Über­zeugungen seien »eng verknüpft mit meiner Lebenserfahrung als aus einer Arbeiterfamilie stammende Frau und Mutter, die Kind, Küche und Karriere miteinander vereinbart«. Auf jeden Fall ist die Tochter eines Arbeiters bei Opel in Rüsselsheim, die nach dem Abitur zunächst mehrere Jahre als Sekretärin und Stewardess arbeitete, dann in Madrid Spanisch und in Frankfurt Soziologie, Pädagogik und Politik studierte, das Kontrastprogramm zu Koch. Und zwar nicht nur, weil sie mit ihrem Lebensgefährten, dem Sozialdemokraten Klaus-Dieter Stork, ihrem Sohn Konstantin und einem weiteren unverheirateten Paar mit Kindern in einer Wohngemeinschaft lebt. Als »Ségolène Ypsilanti« feiern sie ihre Anhänger in Anspielung auf die französische Sozialistin. Demgegenüber verspottet die FAZ Ypsilanti als »munter plaudernde Soziologin mit dem Gutmenschenhabitus« und »Heldin des Prekariats«.

Seit dem Jahr 2003 führt Ypsilanti den hessischen Landesverband der SPD. Kein anderer hatte sich des völlig zerstrittenen Trümmerhaufens erbarmt, der gerade bei der Landtagswahl unter dem biederen Technokraten Gerhard Bökel mit 29,1 Prozent der Stimmen sein schlech­testes Ergebnis der Nachkriegszeit erzielt hatte.

Im Dezember kürten die hessischen Sozialdemokraten Ypsilanti zu ihrer Spitzen­kandidatin. Mit einem Vorsprung von nur zehn Stimmen und erst im zweiten Wahlgang entschieden sich die Parteitagsdelegierten für sie und gegen den den Unternehmen nahe stehenden »Modernisierer« Jürgen Walter, der am 16. Januar auch den Vorsitz in der Landtagsfraktion an Ypsilan­ti abgeben wird. Im ersten Wahlgang hatte der 38jährige Rechtsanwalt, der vom früheren Ministerpräsidenten Hans Eichel und inoffiziell auch von der SPD-Führung unterstützt wurde, noch gleichauf gelegen. Bei einer Mitgliederbefragung hatten sich zuvor sogar 18 der 26 hessischen SPD-Unterbezirke für Walter ausgesprochen, dessen Vorsprung insgesamt allerdings nur 188 Stimmen betrug. Das Mitgliedervotum war für den Parteitag indes nicht bindend.

Seit 1986 Parteimitglied, begann Ypsilan­tis politische Karriere ein Jahr später im Bezirksvorstand der Jusos von Hessen-Süd. Von 1991 bis 1993 war sie Landesvorsitzen­de der Jusos, arbeitete danach als Grundsatzreferentin beim SPD-Landesvorstand und als Refe­ratsleiterin in der hessischen Staatskanzlei. 1999 zog sie über die Liste in den hessischen Landtag ein und wurde stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Ihr Ruf als aufrechte linke Kämpferin begründet sich in ihrer recht ausdauernden Kritik, mit der sie nicht zuletzt den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder kräftig nervte – so sehr, dass er einmal giftete, es könne nicht sein, dass »die Ypsilantis« den Kurs seiner Regierung bestimmten.

Damals warb die Parteilinke dafür, dass die Politik ihrer Partei »wieder sozialdemokra­tischer« werde. So kritisierte sie vehement die Agenda 2010 und gehörte vorübergehend sogar zu den Unterstützern des Mitgliederbegehrens der SPD gegen Schröders »Reformwerk«. Auf dem entscheidenden Parteitag war sie dann doch nicht mehr dagegen (»Bereitschaft zu Pragmatismus«). Immerhin kritisiert sie nach wie vor die Hartz-IV-Regelungen als sozial ungerecht, tritt für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und gegen die Senkung der Unternehmenssteuer ein. »Wir müssen zeigen, dass wir auf der Seite der lohn­ab­hängig Beschäftigten stehen, und das ist die Mehr­heit in diesem Land«, lautet ihr Credo. Als ihren Schwerpunkt bei der kommenden Landtagswahl nannte die Atomkraftgegnerin neben der Energie- und Wirtschaftspolitik die Bildungs- und Familienpolitik: »Das wird von mir als Frau erwartet.«

Ypsilanti erscheine »als jemand, der erfolg­reich den hessischen Feldberg (880 Meter) be­zwungen hat und sich nun anschickt, das Mat­terhorn (4 478 Meter) zu besteigen«, schrieb die FAZ nach ihrer Nominierung. Das Bild passt. Doch ihre bisherige politische Karriere zeigt, dass sie stets Chancen und Risiken genau kalkulierte. Zwar machte sie ihre Ambi­tio­nen erst nach der Absage des Wunschkandidaten Gerhard Grandke, des früheren Offenbacher Oberbürgermeisters, öffentlich.Gleichwohl weiß sie, dass der Kampf gegen Koch nicht völlig aussichtslos ist.

Denn obwohl die Union seit 1999 regiert, gibt es nach wie vor keine gefestigte »bürgerliche« Mehrheit, wie seit Jahrzehnten stehen sich vielmehr zwei etwa gleich starke politische Blöcke gegenüber. Die CDU und die FDP lagen bei den Landtagswahlen 1999 und 2003 jeweils vor Rot-Grün. Bei den beiden vergangenen Bundestagswahlen verhielt es sich indes genau umgekehrt. Die SPD und die Grünen schnitten sogar im Jahr 2005 besser ab als die Konkurrenz, als auch die Linkspartei noch 5,3 Prozent der Stimmen für sich erzielte. So warnt Koch seine Partei vor Überheblichkeit: »Kein Kandidat der SPD in Hessen ist ein einfacher Kandidat.«