Ein Herz für Deutschland

Die Kritik der Antiglobalisierungsbewegung am Freihandel geht am eigentlichen Problem vorbei: am Kapitalismus. Und die deutsche Rolle wird unterschätzt. von gaston kirsche

Den Anfang dessen, was heute Antigloba­lisierungsbewegung genannt wird, begründete einst eine vehemente Kritik am Freihandel. Am 1. Januar 1994 trat der Vertrag der North American Free Trade Association, kurz Nafta, in Kraft. Kanada, die USA und Mexiko sind seit diesem Tag eine Frei­handels­zone. Das Schlagwort Freihandel bedeutet dabei viel mehr als eine Aufhebung der Zölle und Einfuhrbestimmungen. Dazu gehört auch der Abbau des Sozialstaates, Deregulierung, Privatisierung staatlicher Betriebe, Leistungen und Absicherungen.

Den Verheerungen durch die verschärfte kapitalistische Konkurrenz gerade unter der armen Landbevölkerung in Mexiko stand und steht der Aufbruch, den die Zapatisten in Chiapas symbolisieren, gegenüber. Zwölf Jahre später begann das Jahr 2006 mit der Amtseinführung von Evo Morales: Ein radikaler Sozialist, ein als Indio rassistisch Ausgegrenzter, wird Präsident Boliviens. In Lateinamerika gewinnen Kandidaten zumindest nominell linker Parteien bei elf von zwölf Wahlen.

In den neunziger Jahren hatten sich die Regierungen Lateinamerikas an den so genannten »Konsens von Washington« gehalten, der eine unter dem Begriff »neoliberal« bekannt gewordene Politik der Privatisierung, Senkung von öffentlichen Ausgaben und Deregulierung von Märkten empfahl. Diese unermüdlich vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank propagierten Konzepte haben viele Latinos satt. Von den 550 Millionen Lateinamerikanern gelten 220 Millionen als arm, und 100 Millionen Menschen zwischen Mexiko und Feuerland verfügen über weniger als einen Dollar täglich zum Überleben. Der nationalen Bourgeoisie geht es deshalb nicht schlecht, es gibt eine stärkere soziale Polarisierung.

Was gegenwärtig in den meisten Ländern Lateinamerikas stattfindet, ist eine gemäßigte Umverteilungspolitik, einhergehend mit einer Modernisierung der Infrastruktur und einer Förderung von Kleinbetrieben. »Die neuen Linken von heute sind keine Linken, sondern Sozialdemokraten«, bilanziert Marta Lagos, die Direktorin des chilenischen Meinungsforschungsinstituts Latinobarómetro. Die Regierungen würden »Sozialleistungen aufbauen für die Ärmsten der Gesellschaft«, ohne aber die Verwertungsbedingungen fürs Kapital anzutasten. »Die Bezeichnung als Linke verwirrt die öffentliche Meinung«, meint Lagos, weil darunter »revolutionäre Bewegungen wie die von Che Guevara, die Regierung von Salvador Allende oder die kubanische Revolution verstanden werden«.

Allende sprach vom Sozialismus, davon, dass die Arbeiter auf den großen Alleen gehen, dass alle Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum haben würden, ohne dass sie jemand verjagen könne. Michelle Bachelet, die heutige Präsidentin Chiles, von der gleichen Sozialistischen Partei wie Allende, beschränkt sich auf ein paar Sozialprogramme und ansonsten auf eine Fortsetzung der kapitalfreundlichen Wirtschaftspolitik, die in ihren Grundzügen noch auf die Diktatur Pinochets zurückgeht. Marta Lagos hat Recht, wenn sie die Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, Argentiniens, Néstor Kirchner, und Uruguays, Tabaré Vázquez, wie Michelle Bachelet als Sozialdemokraten einstuft.

Eine Ausnahme sieht sie unter den neuen Präsidenten: »Die einzige Regierung, die mehr links ist, ist die bolivianische mit dem Präsidenten Evo Morales, weil sie den Staat neu gründen will.« Damit spielt sie auf die verfassunggebende Versammlung an und darauf, dass die Partei von Morales, die MAS (Bewegung zum Sozialismus), Ausdruck eines sozialen Aufbegehrens von unten ist.

Auf der anderen Seite stehen Regierungen, die nach dem alten sozialdemokratischen Motto verfahren: links blinken, rechts abbiegen. Wie etwa der Präsident Perus, Alan García, von der Revolutionären Amerikanischen Volksallianz Apra, dessen Kapitalfreundlichkeit und Freihandelshalleluja gegenüber den USA devot wirkt, oder der Präsident von Costa Rica, Oscar Arias, von der Partei der nationalen Befreiung, PLN. »Es gibt Länder wie Venezuela, die können sich den Luxus leisten, sich nicht zu integrieren, weil die Regierung unter Präsident Chávez ein dickes Scheckbuch hat, für den Rest Lateinamerikas wäre es ein Fehler, der Abschottung zu folgen, anstatt sich in die Weltgemeinschaft einzufügen«, sagt Lagos.

Die derzeit besseren Wirtschaftsdaten Lateinamerikas basieren nicht auf einer Veränderung der internationalen Hierarchien. Es ist ein kurzer Aufschwung im Rahmen der ungleichen Welthandelsbeziehungen: Staaten wie Brasilien, Argentinien oder Venezuela haben das, was Asien, vor allem China und Indien, zurzeit brauchen: Rohstoffe. Die Nachfrage aus Asien treibt die Preise in die Höhe. Argentinien liefert Soja, Brasilien Eisenerz, Bolivien Zinn, Chile und Peru liefern Kupfer, Ecuador und Venezuela Erdöl. Am meisten profitiert Vene­zuela als fünftgrößter Erdölexporteur der Welt vom Rekordniveau der Preise.

Der gegenwärtige Anstieg der Rohstoffpreise wird vielleicht noch zehn Jahre anhalten. Und dann? Wenn durch Süd-Süd-Kooperation und nicht absehbare revolutionäre Brüche die internationale Arbeitsteilung nicht grundlegend verändert wird, dürfte es im Rahmen der Verwaltung der kapitalistischen Verhältnisse nicht mehr viel zu verteilen geben, wenn die Rohstoffpreise wieder fallen.

Zur Verortung Lateinamerikas im Weltmarkt ist es bei aller Unzulänglichkeit nützlich, an das so genannte Zentrum-Peripherie-Modell anzuknüpfen. Allerdings nicht in seiner antiimperialistischen Banalisierung, sondern im kritischen Bezug auf marxistische Theoretiker der Dependenztheorie. Diese unterscheidet grundsätzlich zwischen industriellen Zentren (Metropolen) und unterentwickelter Peripherie. Durch die strukturelle Abhängigkeit auf dem von den Zentren dominierten Weltmarkt wird die für periphere Län­der typische »strukturelle Heterogenität« erzeugt, die nur eine Entwicklung nach dem Bedarf der kapitalistischen Zentren zulässt und im Trikont desintegrierte Staaten, die nicht auf eine Binnenökonomie, sondern auf den Export zugerichtet sind, hervorbringt.

Die Infrastruktur wurde auf den Export ausgerichtet, nicht auf das Binnenland. Dies wirkt bis heute nach, auch in Afrika. Zurzeit ist es wesentlich teurer, einen Container über 200 Kilometer auf dem afrikanischen Kontinent zu befördern, als dieselbe Fracht von Afrika nach Eu­ropa zu bringen.

Und die kapitalistische Konkurrenzlogik spielt auch bei den Verhandlungen über Süd-Süd-Kooperation eine Rolle. In Boli­vien versucht die Regierung Morales seit einem Jahr, die Hoheit über die Erdgas- und Ölvorkommen wiederzuerlangen. Eine der größten internationalen Ölfirmen in Bolivien ist Petrobras, der zum Teil privatisierte Ölkonzern Brasiliens. Der Jahresumsatz von Petrobras ist fünfmal höher als Boliviens Bruttoinlandsprodukt.

Im September ist der bolivianische Energieminister Andrés Soliz Rada zurückgetreten, weil er auf brasilianischen Druck hin gezwungen wurde, das Dekret 207 außer Kraft zu setzen, demzufolge der brasilianische Ölkonzern Petrobras mehr Gewinne hätte abführen müssen. »Unser Vizepräsident Álvaro García Linera hat Brasilien zugesichert, dass die Resolution 207 eingefroren wird. Er hat dies entschieden, ohne mich vorher zu konsultieren. Deshalb konnte ich nicht mehr im Amt bleiben«, erläuterte er im Interview mit dem Neuen Deutschland. Gleich­wohl lobt er die Regierung Morales: »Viele linke Kritiker übersehen, dass dies die erste Nationalisierung im Zeitalter der Globalisierung ist. Wir haben es mit einem sehr aggressiven Präsidenten Bush zu tun, mit europäischen Regierungen, die ihre Firmen massiv verteidigen.«

Bei solch schweren Rahmenbedingungen ist es nicht verwunderlich, dass sich zwischen den Verlautbarungen für alternative Handelsabkommen und deren Verwirklichung oft eine enorme Kluft auftut. Während das sehr ambitionierte Projekt einer gesamt­ame­ri­ka­ni­schen Freihandelszone von Alaska bis Feuerland im Jahr 2005 an den Präsidenten Lula und Kirchner und an Venezuelas Hugo Chávez gescheitert ist, gibt es immer mehr bilaterale Freihandelsabkommen der USA: Mit Chile, Kolumbien, Peru, Mexiko, und seit am 1. März 2006 die Cafta-DR in Kraft getreten ist, haben die Dominikanische Republik und sechs der sieben zentralamerikanischen Staaten – alle bis auf Costa Rica, wo die Ratifizierung umkämpft ist – dem üblichen Deregulierungsprogramm zugestimmt. Gleichzeitig hat die EU Freihandelsabkommen mit Mexiko und Chile abgeschlossen und die Verhandlungen mit dem Mercosur wieder aufgenommen. Die EU versucht wie die USA, sich mit Freihandelsabkommen Absatzmärkte zu sichern.

Das deutsche Kapital ist auch ohne Freihandel ausgiebig in Lateinamerika vertreten, von 2004 bis 2006 stiegen die gesamten Investitionen in Lateinamerika um 15 Milliarden auf 60 Milliarden US-Dollar. Es gibt einen Run des Globalisierungsgewinners, des deutschen Kapitals, auf die Filetstücke der Industrien in den größeren Ökonomien: 22 Milliarden deutsche Direktinvesti­tionen in Brasilien, 17 Milliarden in Mexiko – den beiden größten Ländern, in denen deutsches Kapital Schlüsselpositionen in mehreren Industriebranchen innehat, etwa in der Autoindustrie.

Die USA sind mit 226,5 Milliarden US-Dollar Investitionen in Lateinamerika die Nummer eins, Spanien liegt mit 70 Milliarden auf Platz zwei, gefolgt von Deutschland. Die Arbeit deutscher Unternehmen in Lateinamerika könnte für eine Antiglobalisierungsbewegung hierzulande ein Anlass für Protest sein, wird aber meist übersehen, obwohl das deutsche Kapital außerhalb der EU nirgendwo sonst auf der Welt so dominant ist. Nicht nur beim Autobau, wo der VW-Konzern im vergangenen Jahr sowohl in Mexiko als auch in Brasilien seine Arbeit verstärkt hat und die Löhne drückt. In der chemischen und der pharmazeutischen Industrie, in der Elektrotechnik und im Maschinenbau bestimmen Deutsche die Arbeits- und Produktionsbedingungen.

Dass die Antiglobalisierungsbewegung in Deutschland auf ein Gipfeltreffen der G8 und das Erscheinen des US-Präsidenten wartet, um mal wieder aktiv zu werden, könnte die ungute Vermutung aufkommen lassen, dass sie gewisse nationale Sympathien mit den Gewinnern der Globalisierung hierzulande hegt.