Feierabend im Zelt

Binnen weniger Wochen haben es ein paar Wohnungslose geschafft, die Wohnungsnot zum wichtigsten innenpolitischen Thema zu machen. bernhard schmid hat die Camper in der Pariser Innenstadt besucht

Geschätzte 100 000 Obdachlose leben in Frankreich, hinzu kommen drei Millionen, die in unzureichenden Wohnungen ihr Dasein fristen. Sie leben in Wohnwagen und auf Campingplätzen, hausen in hoffnungslos überbelegten Wohnungen, die allen hygienischen Standards spotten, oder haben sich bei Freunden und Verwandten einquartiert. Rund 300 von ihnen campieren seit dem 16. Dezember mitten in Paris am Canal de Saint-Martin.

Von dort aus hatte die Initiative »Les Enfants de Don Quichotte« (»Kinder des Don Quichotte«) acht Tage vor Weihnachten an die »Leute mit einem Dach über dem Kopf« den Aufruf gerichtet: »Kommt her und seht selbst, wie es sich als Obdachloser lebt!« Und so manche, darunter Prominente wie der Schauspieler Jean Rochefort, haben diese Einladung angenommen. In den abendlichen Fernsehnachrichten war sogar eine 70jährige Frau zu sehen, die eine Nacht im Zelt verbrachte.

Unruhiger Schlaf, der Lärm des Autoverkehrs bis spät in die Nacht, die Schritte der Passanten am frühen Morgen: Wie lässt sich hier wohnen? Hakim* stammt aus Tunesien, Rachid* aus Marokko. Beide sind seit über 17 Jahren in Frankreich. Doch sie kamen zu einer Zeit, als es schon keine Arbeit mehr gab. Dennoch blieben sie, weil sie in ihren Heimatländern erst recht keine Perspektive sahen. Einen legalen Aufenthaltstitel haben sie niemals besessen. Also leben sie von Erntearbeiten, wie im Herbst, als sie bei der Weinernte in Burgund halfen, und von anderen Gelegenheitsjobs. Eine Wohnung können sie damit nicht bekommen.

Rafaël* ist ein junger Mann, Anfang 20, und kommt ursprünglich aus La Rochelle im Westen Frankreichs. Wie er hierher kam? »Seit 14 Tagen bin ich auf der Straße. Vorher habe ich bei meiner Freundin gewohnt. Ich selbst lebe von Zeitarbeit, da brauchst du es erst gar nicht versuchen, dir eine Wohnung zu suchen. Dann hat die Freundin mich vor die Tür gesetzt. Seither bin ich auf der Straße.« Als er von der Aktion hörte, wollte er mitmachen. Wie es weitergeht? Er will sich eine neue Freundin suchen, die eine Wohnung hat. Er habe schon etwas in Aussicht. Rafaël ist nicht der einzige in der Zeltstadt, der nach einer Trennung auf der Straße gelandet ist. Manche konnten allein ihre Miete nicht zahlen, anderen wurde die Wohnung gekündigt, wieder andere fielen in eine vorübergehende Depression und verloren ihren Job.

Die Initiatoren der Aktion, die Brüder Augustin und Jean-Baptiste Legrand, leben nicht aus materieller Not in einem Zelt. Augustin, 31 Jahre alt und zwei Meter groß, ist Schauspieler. Beim Drehen eines Dokumentarfilms wurde er auf die Lage der »Menschen ohne festen Wohnsitz« aufmerksam, wie die modernen Obdachlosen heißen – in Abgrenzung zu den clochards früherer Zeiten, deren Lage oft romantisiert worden ist und von denen manche dieses Leben selbst gewählt hatten, um den Zwängen eines bürgerlichen Daseins zu entfliehen.

Die Mehrheit unter den Wohnungslosen von heute würde ohne Zweifel gern eine andere Existenz führen. Fast 30 Prozent von ihnen arbeiten Vollzeit, auch wenn sie zumeist nur befristete Verträge haben oder bei Zeitarbeitsfirmen angestellt sind. Aber etwa acht Prozent haben unbefristete Arbeitsverträge. Doch auch sie können die Auflagen der Hauseigentümer und Maklerfirmen nicht erfüllen, die immer weitergehende Einkommensgarantien und Bürgschaften fordern.

Verantwortlich für den enormen Anstieg der Mieten der vergangenen Jahre sind drei Faktoren: Zum einen wurde nach dem Zusammenbruch der New Ecomony viel Kapital von der Börse in Immobilien umgelenkt, die als sichere Anlage gelten. Der stetige Kapitalzufluss hat die Preise in die Höhe getrieben. Zum zweiten hat sich der Immobilienmarkt stark internationalisiert, was den Preisdruck erhöht. Vor allem die US-amerikanischen Pensionsfonds, von denen die Existenz vieler Rentner abhängt und die ins französische Immobiliengeschäft eingestiegen sind, legen ein aggressives Investitionsgebaren an den Tag.

Zum dritten gibt es schlicht und einfach zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Nicht, dass nicht mehr gebaut würde, im Jahr 2005 war mit 410 000 fertig gestellten Wohneinheiten sogar ein gewisser Bauboom zu verzeichnen. Aber 85 Prozent der neuen Wohnungen und Häuser können sich nur die Leute leisten, die mit ihrem Einkommen zum obersten Viertel der Gesellschaft gehören. Seit dem Regierungsantritt der UMP im Jahr 2002 wurde der soziale Wohnungsbau erheblich reduziert. Stattdessen erhalten private Baufirmen staatliche Zuschüsse dafür, dass sie neuen Wohnraum errichten. Irgendwelche soziale Auflagen müssen sie nicht erfüllen.

Was hat die Aktion der Zeltenden, die zum wichtigsten innenpolitischen Thema geworden ist, gebracht? Immerhin folgendes: Alle aussichtsreichen Kandidaten, die im April zur Präsidentschaftswahl antreten werden, selbst Innenminister Nicolas Sarkozy, versuchen, einander mit Lösungsvorschlägen zu überbieten. Sie alle haben erklärt, die »Charta vom Canal Saint-Martin« zu unterstützen. Präsident Jacques Chirac und Premierminister Dominique de Villepin haben den wichtigsten Aspekt des Manifests aufgegriffen: Das »Recht auf eine Wohnung«, das seit dem Jahr 1946 Verfassungsrang genießt, soll endlich zu einem einklagbaren Recht werden. Das hieße, dass jeder, der keine Wohnung zu angemessenen Bedingungen finden kann, den Staat anklagen und Schadenersatz verlangen kann. Diese Forderung, die soziale Initiativen schon seit Jahren erheben, wird mit einem Mal von vielen Politikern geteilt. Nur die beiden extrem Rechten Jean-Marie Le Pen und Philippe de Villiers haben sich davon distanziert. Le Pen hält ein einklagbares Recht für »eine klare Verletzung des Privateigentums«, de Villiers sieht in der »Masseneinwanderung« die Ursache für die Wohnungsnot.

Chirac und de Villepin haben angekündigt, in den kommenden Wochen einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der noch in dieser Legislaturperiode beschlossen werden könnte. Denn es geht den beiden, deren politische Karrieren wohl in diesem Frühjahr zu Ende gehen dürften, wohl auch darum, mit einer guten Tat in die Geschichte einzugehen. Alle daraus folgenden Probleme blieben ihren Nachfolgern überlassen. Denn mindestens 900 000 Sozialwohnungen müsste die nächste Regierung bauen, um den unmittelbaren Bedarf zu befriedigen.

*Namen von der Redaktion geändert