Ohne Netz und ohne Plan

Indymedia Italien hat sein vorläufiges Ende bekannt gegeben. Damit verliert die Linke ein wichtiges Forum der Selbstverständigung. von catrin dingler

Er habe in die Luft geschossen und nicht auf Carlo Giuliani gezielt. Ende November liefer­te Mario Placanica in einem Interview mit einer kalabresischen Tageszeitung überraschend eine neue Version der Ereignisse auf der Piazza Alimonda während des G 8-Gipfels in Genua im Sommer 2001. Ausgerechnet einen Tag nachdem die Beteuerungen des suspendierten Carabiniere von den Medien aufgriffen wurden und in den Fluren des Parlaments noch einmal erhitzte Debat­ten auslösten, verkündete Indy­media Italien sein vorläufiges Ende. Seit Dezember ist das Internet­portal nicht mehr aktiv, alle nationalen und lokalen Listen sind geschlossen, nur das Archiv kann weiterhin benutzt werden.

Die Geschichte des italienischen Indymedia ist eng mit den Ereignissen in Genua verknüpft. Zwar war das Portal im Jahr 2000 bereits aktiv, doch erst durch den G 8-Gipfel wurde es zum wichtigsten Be­zugspunkt der italienischen Antiglobalisierungsbewegung. Tausende Augenzeugenberichte, Fotos und Amateurvideos, die von den Aktivisten des unabhängigen Netzwerks gesammelt wurden, bildeten die Basis zur Rekonstruktion der Vorfälle in den Straßen und auf den Plätzen Genuas.

In den ersten Jahren nach den Ereignissen von Genua, als die No-global-Bewegung stetig wuchs und Kommunisten und Grüne die Zusammenarbeit mit der außerparlamentarischen Opposition suchten, galt Indymedia als das wichtigste und innovativste Medium der radikalen Linken. Doch inzwischen haben sich nicht nur die politischen Machtverhältnisse verändert, auch die Möglichkeiten zur freien Publikation haben sich vervielfacht. Indymedia Italien hat längst seinen einstigen Einfluss verloren, die Nachricht vom Ende wurde kaum noch kommentiert.

Die Geschichte des Netzwerks scheint für die italienische Linke ebenso abgeschlossen wie für das Gericht in Genua der Fall Giuliani: Die Aussagen Placanicas, so die Staatsanwaltschaft, böten keinen Anlass, das Verfahren nochmals aufzunehmen. Ähn­lich lapidar klingt auch die kurze Verlautbarung, mit der die italienischen Indymedia-Leute sich bis auf weiteres verabschieden: Sechs Jahre nach der Einrichtung von Indymedia Italien sei es notwendig, über diese Art Medium nachzudenken. Dazu brauche man Ruhe, eine Zeit des Schweigens.

In einer kurzen Begründung der Entscheidung heißt es: Im Laufe der Jahre seien die Gruppen untereinander in Konflikt geraten, besonders um den newswire und das open publishing habe es permanent Auseinandersetzungen gegeben. Anstatt Nachrichten zu produzieren, seien nach dem Copy-and-Paste-Prinzip Informationen aus den Mainstream-Medien reproduziert worden. Außerdem habe die Veröffentlichung von Fotos und Filmen, die persönliche Daten enthielten und sogar die Gesichter der Aktivisten zeigten, mangelnde Verantwortung im Umgang mit dem Medium demonstriert. Auch die Mailinglisten hätten immer schlech­ter funktioniert: Einerseits sei die Beteiligung an den Diskussionen rückläufig gewesen, andererseits aber sei es immer schwieriger geworden, dem Anspruch, alle Entscheidun­gen im Konsens zu treffen, gerecht zu werden.

Diese Probleme sind freilich nicht neu. Bereits auf der vorletzten Vollversammlung im Jahr 2004 waren die Schwierigkeiten, über die Listen zum Konsens zu finden, debattiert worden. Einige aus der alten Gruppe, die die Seite eingerichtet hatten, hatten sich deshalb zurückgezogen und jüngeren, aus lokalen Medienzentren kommenden Leu­ten die Leitung des nationalen Netzwerks überlassen. Doch die Probleme konnten dadurch nicht gelöst werden.

Jetzt hat die Ankündigung des Providers, einen wichtigen Server nicht mehr länger kostenlos zur Verfügung zu stellen, und damit die Notwendigkeit, nach neuen technischen Kapazitäten zu suchen, die Diskussion wieder angeregt. Auf der für Ende November einberufenen Vollversammlung standen drei Lösungen zur Alternative: Alles beim Alten zu belassen und nur nach einem neuen Provider zu suchen, das nationale Netzwerk zugunsten der lokalen Sta­tio­nen zu verkleinern und eventuell nur durch die auto­matische Transmission lokaler Informationen aufrechtzuerhalten oder aber das Projekt überhaupt zu beenden, wenigstens für eine Weile.

Wie zur Bestätigung der Krise zählte auch das Plenum in Turin nur wenige Teilnehmer. Kaum mehr als fünfzig Personen fanden sich zur Diskussion ein und beschlossen die vorübergehende Schließung. Vielleicht nur für »ein oder zwei Monate«, so lautete die optimistische Einschätzung eines Teilnehmers. Ein anderer Aktivist wollte sich zur Dauer der beschlossenen »Reflexionspause« nicht äußern. In einem längeren Interview mit dem freien Radio Onda d’Urto verteidigte er die Entscheidung, eine neue Phase einzuleiten. Es sei wich­tig, den Bruch zum bisherigen Projekt eindeutig zu markieren. Eine neue nationale Mailing­liste soll nun in der Diskussion klären, ob überhaupt ein neues Projekt Italien.Indymedia 2.0 gestartet werden soll.

Die Entscheidung, das Portal zeitweilig zu schließen, kam nicht überraschend. Indymedia Sizilien war schon einmal für mehrere Monate geschlossen, nachdem die Sparte des open publishing von den Fanclubs der Fußballmannschaft von Palermo zum verbalen Schlagabtausch miss­braucht worden war.

Tatsächlich dreht sich die aktuelle Diskussion vor allem um die freie Veröffentlichung. Man möchte die Form einer »Vitrine«, den Charakter eines »schwarzen Bretts« aufrechterhalten und gleichzeitig den in den vergangenen Jahren registrierten Verfall des Niveaus aufhalten. Dabei geht es nicht um durchaus fragwürdige politische Inhalte: Dass permanent Fotos und Videos veröffentlicht werden, auf denen israelische Fahnen verbrannt werden, wird in der radikalen Linken nicht problematisiert. Die antiisraelische Hetze ist Konsens. Gegenwärtig geht es um die Notwen­digkeit, pornografische, beleidigende oder einfach nur banale Beiträge auszusortieren.

In der Diskussion um die Moderationskriterien wird deutlich, dass sich die Aktivisten nicht darüber einig sind, ob sie überhaupt noch ein nationales Netzwerk wollen. Hinter der Forderung nach Dezentralisierung steht der Wunsch nach Lokalisierung. Regional und kommunal verwaltete Netz­werke, die ihre Informationen mehr oder weniger automatisch an einen nationalen Pool weiterleiten, sind längst wichtiger geworden als Indymedia.

Nach dem Ende der »Bewegung der Bewegungen« ist das multimediale Forum globalproject.info für alle, die, so heißt es in der Eigenwerbung, »Mul­titudine machen wollen«, zur wichtigsten Adresse geworden. Zum Thema Flucht und Migration hält die Plattform meltingpot.org die aktuellsten und fundiertesten Berichte bereit. Beide Foren bieten auch englischsprachige Seiten an, allerdings enthalten diese deutlich weniger Informationen als die italienischen Originalseiten. Dazu passt, dass in der aktuellen Diskussion um Indymedia der Aspekt des internationalen Austauschs überhaupt nicht reflektiert wird. Doch mit der Schließung von Indymedia Italien verabschieden sich die italienischen Medienaktivisten bis auf weiteres aus dem Projekt eines internationalen Mediennetzwerks.