Slums rund ums Kanzleramt

Berlin vergleicht sich zwar gerne mit London und Paris, aber zu mehr als einigen Wohlstandsinseln in der Nähe des Regierungsviertels reicht es nicht. von christoph villinger

Die Bürger kommen in die Stadt zurück. Das zumindest hofft die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, wenn sie die neuen »Berlin Townhouses« anpreist. Direkt gegenüber dem Auswärtigen Amt entstehen derzeit individuell gestaltete Reihenhäuschen für Besserverdienende und ihre Familien mitten in der Stadt. Innerhalb einer Woche waren die Bauplätze reserviert. Nicht weit davon entfernt, in der Nähe des Volksparks Friedrichshain, baut eine Bremer Immobilienfirma mit den »Prenzlauer Gärten« sogar ein ganzes Viertel im Stil englischer Reihenhäuser für die obere Mittelschicht. Nun bemüht sich die Berliner Verwaltung, geeignete Grundstücke für rund 1 000 weitere »Townhouses« auszuweisen. Diese städtebauliche Entscheidung soll dazu beitragen, gut verdienende Steuerzahler in der Stadt zu halten oder in die Innenstadt zurückzulocken.

Denn jenseits dieser Träume von einem neuen städtischen Bürgertum sieht die Realität in der Berliner Innenstadt ganz anders aus. Entgegen den Prophezeiungen vieler Experten für Stadtentwicklung, die nach dem Mauerfall eine Vertreibung der Armen befürchteten, ist eine solche Entwicklung ausgeblieben. Die einzige Ausnahme bilden einige Straßenzüge im alten Bezirk Mitte und das Viertel rund um den Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg, wo sich die Bevölkerung fast vollständig ausgetauscht hat. Aber in allen anderen innenstädtischen Vierteln war das Gegenteil der Fall: Aus Kreuzberg, Neukölln, Tiergarten, Wedding oder Friedrichshain zog die Mittelschicht weg, hinaus in die Randbezirke oder ins eigene Häuschen im Brandenburger Speckgürtel. Spätestens, wenn die eigenen Kinder das schulpflichtige Alter erreichen, sind sie weg.

Deshalb findet in den Vierteln der Innenstadt »eine Binnenverarmung« statt, wie der grüne Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz, schon vor Jahren feststellte. Niedrigere Einkommen und höhere Mieten lassen die Menschen zwar näher zusammenrücken, aber nicht wegziehen. Nicht ohne Grund befinden sich die meisten der 33 Berliner »Quartiersmanagements«, die zur Stabilisierung der Armutsviertel beitragen sollen, in den Vierteln rund um den Regierungssitz. Offensichtlich wurde die Entwicklung spätestens, als nach dem Hilferuf der Lehrer der Neuköllner Rütli-Schule die soziale Zusammensetzung der Schüler in den Klassenzimmern der Innenstadtbezirke ins Blickfeld der Medien geriet. Egal, ob mit oder ohne deutschem Pass in der Tasche, die Eltern der meisten Schüler gehören zu den Armen.

Dennoch sind die Befürchtungen vieler Linker, dass Menschen mit niedrigem Einkommen vertrieben werden könnten, nicht falsch. Zwei Faktoren spielen in der sehr widersprüchlichen Berliner Situation eine Rolle. Zum einen sind in den vergangenen Jahren mehrere 100 000 Wohnungen aus städtischem Besitz an internationale Fondsgesellschaften wie Cerberus, Fortress oder Lonestar verkauft worden. Diese Gesellschaften sind ausschließlich dem Prinzip der Profitmaximierung verpflichtet und haben, anders als die städtischen Wohnungsbaugesellschaften, keine gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Bislang wurde nur vereinzelt, wie etwa im Viertel am Grazer Damm in Schöneberg, versucht, einen Teil der angestammten Mieter zu vertreiben.

Aber die Strategie der Immobiliengesellschaften ist klar. Einen Teil der Wohnungen wollen sie als Eigentumswohnungen mit deutlichem Gewinn weiterverkaufen, einen weiteren Teil sanieren und aufwerten, um höhere Mieten zu erzielen. Der Rest, meist die Quartiere des ehemaligen so genannten sozialen Wohnungsbaus, soll nach Bedarf auf den Markt geworfen werden. Aber auch hier wird die Bewirtschaftung der Gebäude kapitalistischen Effizienzkriterien unterworfen, was meist zu deutlich höheren Mieten führt.

Dennoch sollte man nicht jedes Wunschdenken dieser Immobilienverwerter für bare Münze nehmen und ihrer Selbstinszenierung vorschnell glauben. Noch stehen in Berlin rund 100 000 Wohnungen leer, wenn auch eher im mittleren und oberen Preisbereich. Und wer sich einmal die Anekdoten vom Auftreten der neuen Herren in den ehemaligen städtischen Wohnungsbaugesellschaften hat erzählen lassen, kann sich gut vorstellen, dass sie sich schlicht und einfach verrechnet haben.

Denn die objektiven Zahlen sprechen gegen sie. So schreibt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in einer Studie zur Bevölkerungsentwicklung in der »Metropolregion Berlin«: »Gegenüber den Wachstums­erwartungen für Berlin, über die Anfang der neunziger Jahre ein breiter Konsens bestand, ist die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung in den letzten Jahren deutlich zurückgeblieben. Nach der vorliegenden Bevölkerungsprognose ist auch künftig nicht mit größeren Einwohnerzuwächsen zu rechnen. Die Prognoserechnung weist für das Jahr 2020 eine leicht geringere Bevölkerungszahl (3,366 Mio. Personen) als zu Beginn des Prognosezeitraumes (31. Dezember 2002: 3,392 Mio.) aus.«

Nur der Speckgürtel um Berlin wird wachsen, aber schon in Städten wie dem 60 Kilometer entfernten Eberswalde rechnet man mit einem weiteren Rückgang der Bevölkerung, von den derzeit etwa 42 000 Einwohnern sollen im Jahr 2020 nur 35 000 übrig sein. Zur Zeit der Wende hatte Eberswalde noch 60 000 Einwohner. Diese Entwicklung bestätigt auch das Statistische Bundesamt: Dort geht man davon aus, dass sich die Bevölkerung in Deutschland von derzeit etwa 82,31 Millionen bis zum Jahr 2050 auf rund 70 Millionen Einwohner reduzieren wird. Wenigen Wachstumszentren würden riesige Abwanderungsgebiete gegenüberstehen, selbst in einigen westlichen Gegenden wie dem Osten Württembergs werde die Bevölkerung zurückgehen. Wer braucht also noch mehr Wohnungen?

Wie in Berlin kapitalistische Träume bis auf weiteres platzen, kann man auch bei dem geplanten Viertel »Mediaspree« in der Nähe des Ostbahnhofs beobachten. Pünktlich zur Fußballweltmeisterschaft sollte die Halle der Anschutz Entertainment Group fertig sein, doch die Grundsteinlegung erfolgte erst im Herbst 2006. Von dem geplanten neuen Stadtviertel spricht niemand mehr. Viele Investoren in der Nachbarschaft sitzen auf ihren teuren Grundstücken und verschieben Jahr für Jahr den Baubeginn, weil für ihre Luxusapartments keine Nachfrage besteht.

So sollte man auch beim zweiten Faktor, den durch Hartz IV möglich gewordenen Zwangsumzügen, etwas gelassener sein. Sicher gilt weiterhin die Warnung des Stadtforschungsinstituts Topos aus dem Jahr 2005, in der es heißt, dass allein in Friedrichshain-Kreuzberg mehr als 10 000 Haushalte von Zwangsumzügen bedroht seien. Hochgerechnet auf die Stadt bedeutet dies 70 000 Haushalte. Doch durch den Widerstand der Mieter und der Kampagne gegen Zwangsumzüge in den vergangenen Monaten konnte die Zahl der von den Arbeits­agen­turen angeordneten Zwangsumzüge äußerst gering gehalten werden.

So wird es in Berlin auch in Zukunft direkt neben den »Townhouses« der Reichen die Viertel der Hartz-IV-Empfänger geben. Den Vergleich mit Paris, London oder gar New York kann Berlin nicht wagen. Schon eher vergleichen lässt sich Berlin mit der US-amerikanischen Hauptstadt Washington DC: Gleich hinterm Weißen Haus beginnen dort die Slums.