»Zu geringe Lohnzuwächse erhöhen die Arbeitslosigkeit«

Thorsten Schulten

»Die Situation der Unternehmen ist extraordinär gut, auch die Mittelständler haben keinen Grund zur Klage«, meint der stellvertretende Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber. Darum werde seine Gewerkschaft bei den bevorstehenden Tarifverhandlungen deutlich stärkere Lohnerhöhungen fordern als in den vergangenen Jahren. Keine schlechte Idee, wenn man bedenkt, dass die Reallöhne in Deutschland seit Jahren stagnieren oder sinken. Im Jahr 2006 etwa sanken sie dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung zufolge um 0,7 Prozent.

Dort arbeitet Thorsten Schulten. Der Wirtschaftswissenschaftler befasst sich mit tarifpolitischen Fragen, zuletzt erschien im VSA-Verlag das von ihm mitverfasste Buch »Mindestlöhne gegen Lohn­dumping«. Mit ihm sprach Deniz Yücel.

Im Dezember waren 4,008 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, fast 600 000 weniger als im Vorjahr. Woher kommt das?

Das ist das Ergebnis eines üblichen konjunk­turellen Aufschwungs, der mit der güns­tigen Weltkonjunktur zusammenhängt, von der die exportorientierte Industrie profitiert. Im zweiten Halbjahr 2006 gab es auch einen kleinen Anstieg der privaten Nachfrage, doch zweifle ich, dass das nachhaltig sein wird. Denn viele Leute haben angesichts der erhöhten Mehrwertsteuer größere Ausgaben vorzeitig getätigt. Und unter den neuen Stellen finden sich zwar erstmals wieder viele sozialversicherungspflichtige, aber viele davon sind Zeitarbeitsverhältnisse.

Gibt der Rückgang der Arbeitslosenzahlen den Unternehmern Recht, die behaupten, mäßige Lohnsteigerungen führten zu einer höheren Beschäftigung?

Die Lohnzurückhaltung wird nicht erst seit vorigem Jahr ausgeübt, sondern seit Mitte der neunziger Jahre. In dieser Zeit blieben die Lohnsteigerungen hinter dem durch die Entwicklung der Preise und der Produktivität bemessenen Verteilungsspielraum zurück, mitunter fielen sie niedriger aus als die Preissteigerungen. Fast überall sonst in Westeuropa stiegen die Löhne viel stärker, zugleich entwickelte sich die Beschäftigung besser. Hierzulande haben die geringen Lohnzuwächse die Arbeitslosigkeit, die ja immer noch sehr hoch ist, verstärkt.

Heißt das, dass Deutschland für Westeuropa eine ähnliche Funktion als Lohndrücker einnimmt wie China für uns?

So kann man das nicht sagen, weil das hiesige Niveau viel höher ist. Dennoch müsste von der deutschen Lohnpolitik und den deutschen Exporterfolgen ein immenser Druck auf die Nachbarn ausgehen. Erstaunlicherweise ist ein solcher Effekt des beggar my neighbor bislang ausgeblieben, abgesehen von einer Ausnahme: Österreich, wo die Löhne in den letzten Jahren durch die Lage in Deutschland nach unten gerissen wurden.

Die deutschen Gewerkschaften haben die Lohnzurückhaltung unterstützt, weil sie gehofft haben, dadurch Arbeitsplätze zu sichern oder neue zu schaffen.

Die meisten Gewerkschafter haben die Lohnzurückhaltung nicht aus Überzeugung akzeptiert, sondern geglaubt, dieser Politik der Unternehmen nichts entgegensetzen zu können. Aber die Tarifpolitik ist nur ein Faktor. Schweden oder Großbritannien – zwei Länder mit unterschiedlichen Kapitalismusmodellen – haben relativ starke Lohnbilanzen vorzuweisen. Dort war die Wirtschafts­politik expansiver, man könnte sagen: keynesianischer.

Einzigartig ist auch, dass wir in Deutsch­land eine negative Lohndrift haben, die Tarifabschlüsse sind höher als das, was bei den Leuten ankommt. Bis in die achtziger Jahre war es umgekehrt, auf Tarifrunden folgten oft zusätzliche betriebliche Vereinbarungen. Seither wurden den Betrieben Möglichkeiten eröffnet, um von den Tarifverträgen nach unten abzuweichen.

War das falsch?

Bei Siemens / BenQ sehen wir die Grenzen einer solchen defensiven Politik. Aber selbst im Fall Siemens, der verheerend war, weil er viele Nachahmer fand, muss man sich ins Jahr 2004 versetzen. Den Betriebs­räten wurde die Pistole auf die Brust gesetzt: »Entweder ihr stimmt dieser Vereinbarung zu oder eure Jobs sind weg!« Was hätten Sie da getan? Bei solchen Erpressungen werden nicht nur Gewerk­schafter gefügig. Nehmen wir den Fall FAG Kugelfischer: Dort ließ das Unternehmen jüngst die Belegschaft über eine kostenlose Rückkehr zur 40-Stunden-Woche abstimmen, was diese gegen den Willen der Gewerkschaften mit einer großen Mehrheit akzeptierte.

Tragen erhöhte Steuern und Abgaben dazu bei, dass die Leute weniger haben?

In den letzten Jahren wurden die Arbeitnehmer mal belastet, mal wieder entlastet. Eine starke Belastung ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer, weil sie sich auf Menschen mit geringem Einkommen am stärksten auswirkt. Hinzu kommt der Wegfall von Freibeträgen wie der Pendlerpauschale. Daher wird von Gewerkschaften erwartet, in diesem Jahr mehr herauszuholen.

Das hat die IG Metall vor.

Schon der Abschluss im letzten Jahr war höher als in den Vorjahren. Ich hoffe, diese Tendenz setzt sich fort.

Im Vergleich zu manchen anderen ist das bescheiden. Die Ärztevereinigung Marburger Bund hat im vorigen Jahr 30 Prozent mehr gefordert und 16 bis 20 bekommen.

Das klingt zunächst sympathisch, wenn der Marburger Bund sagt: »Es gab diese und jene Entwicklung, es besteht Nachholbedarf, fertig!« Aber dieses Vorgehen hat auch etwas Ständisches. Und es birgt die Gefahr, dass es auf Kosten der anderen Beschäftigten in den Kliniken geht. Die IG Metall hingegen hatte in ihren Lohnforderungen immer eine gesamtwirtschaftliche Orientierung.

Wenn alle Gewerkschaften 30 Prozent mehr Lohn durchsetzen würden, käme eine immense Preissteigerung, die bald die nominale Lohnerhöhung auffressen würde. Das Problem von Gewerkschaften im Kapitalismus ist, dass sie nur Nominallöhne, aber keine Reallöhne aushandeln können. Daher sind einer radikalen Lohnpolitik Grenzen gesetzt. Das mag bei einer Standesorganisation funktionieren, aber insgesamt halte ich das nicht für vernünftig.

Ein Drittel aller Lohnabhängigen im Westen und die Hälfte im Osten Deutschlands sind nicht von Tarifverträgen betroffen. Ist aus deren Sicht die IG Metall nicht ebenfalls eine Standesorganisation?

So argumentiert die herrschende Wirtschaftswissenschaft, die in der IG Metall die Organisation der Arbeitsplatzbesitzer sieht, die durch ihre Lohnforderungen die anderen aus dem Arbeitsmarkt drängt. Ich halte das für Unsinn. Die Erfahrung zeigt, dass gute Ergebnisse der IG Metall es Arbeitnehmervertretern in anderen Branchen erleichtern, höhere Löhne durchzusetzen.

Allerdings gibt es Branchen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe, in denen die Tarifpolitik wenig regeln kann. Darum fordern wir gesetzliche Mindestlöhne und stärkere Regelungen für die Übernahme von Tarifverträgen, wie es in anderen Ländern praktiziert wird. Mit tarifpolitischen Mitteln kann man prekäre Beschäftigung nur bedingt bekämpfen.

Die IG Metall will enger mit ausländischen Gewerkschaften zusammenarbeiten. Überwiegen nicht im Zweifel die nationalen Interessen?

Bei den europäischen Betriebs­räten gibt es große Unterschiede. Da gibt es Beispiele, wo praktisch nichts passiert. Und es gibt Beispiele, wo die Betriebs­räte dieses Gremium dazu nutzen, um gemeinsam gegen Standortwettbewerbe vorzugehen. Auch wenn es immer wieder dazu kommen wird, dass Arbeitnehmervertreter Zugeständnisse machen, die auf Kosten von Kollegen im Ausland gehen, gibt es zu einer internationalen Kooperation keine Alternative.

Neben der gewerkschaftlichen Ebene gibt es die politische. So hat der Fall AEG die IG Metall dazu bewogen, über offensivere Strategien zu diskutieren, etwa über eine Verlagerungsabgabe: Wenn ein Werk geschlossen wird, sollten die Unternehmen wenigstens einen Teil der gesellschaftlichen Folgekosten übernehmen.