Auf der anderen Seite

Uwe Nettelbeck, 1940 bis 2007. von stefan ripplinger

Wer die grandiose Architektur seiner Sätze und Bücher kennt, erwartete einen bedächtigen, besonnenen Mann. Aber Uwe Nettelbeck, der am 17. Januar in Bordeaux gestorben ist, war alles andere als das, er war ungeduldig, großzügig, manchmal leichtsinnig und immer in Eile. Nur nicht, wenn er schrieb oder kochte. Ganz egal, was er tat, es war nie leicht, ihm zu folgen. Aber es hat sich immer gelohnt.

Was seine Gegner das Fürchten, seine Anhänger das Staunen lehrte, war nicht allein seine Überlegenheit. Es war auch seine Unberechenbarkeit. Niemand konnte, niemand kann über Kino schreiben wie er. Aber anstatt als der »Filmpapst«, als den ihn in den Sechzigern manche sehen wollten, besonders wertvolle Filme zu empfehlen, verstörte er mit »Besonders wertvoll«.

Der Film von Hellmuth Costard lässt eine Rede über das Gesetz zur Filmförderung von einem Penis vortragen. Als Produzentin zeichnet Petra Nettelbeck. Er habe in der Jury des Oberhausener Festivals für »Besonders wertvoll« plädiert, schrieb Uwe Nettelbeck damals, 1968, weil dieser Film die »andere Seite zwingt, Farbe zu bekennen, nicht liberal zu reagieren, wie sie möchte, sondern autoritär, wie sie muß, wenn es ernst wird«. Die andere Seite enttäuschte ihn nicht. Costards Film wurde auf Geheiß von Hilmar Hoffmann und anderen Bonzen vom Festival verbannt.

Danach war kein Platz mehr für Uwe Nettelbeck in einer deutschen Jury und »auf der anderen Seite«, immerhin standen ihm auf dieser noch Karrieren offen, als Schutzpatron des Underground, als hauptamtlicher Provokateur des Establishments, als Pop-Produzent. Er hat sie auf seine Weise allesamt ausgeschlagen. Befragt nach »Trivialmythen«, schickte er eine unkommentierte Liste seiner Schallplatten. Vom Spiegel zum Prozess gegen Charles Manson entsandt, lieferte er eine Collage der abstoßendsten Berichte aus der deutschen Regenbogenpresse. Mit für die damalige Zeit unerhörten Vorschüssen versehen, produzierte er einige der sprödesten und am schwersten verkäuflichen Platten des deutschen Pop, die ersten vier Alben von Faust. In Großbritannien und in den USA werden sie bis heute kultisch verehrt.

Das Ausplaudern des Betriebsgeheimnisses ist ein gefahrloses Spiel geworden. Aber so, wie Nettelbeck es betrieb, beförderte sich einer damit auch heute noch umstandslos ins Aus. Genau das lag in seiner Absicht. »Ruckzuck geht das«, schrieb er mir einmal, »und schon ist man mit den paar netten Leuten allein, für die mit knapper Not Zeit ist. Die Anlässe, den Rest zu verabschieden, können gar nicht primitiv genug sein.« »Mainz wie es singt und lacht«, 1976 im Familienverlag erschienen, dokumentiert Briefe von Verlegern, Radioredakteuren, Filmfunktionären in voller Länge. Das deutsche Kulturleben bietet sich dar als eine von Schwätzern, Halsabschneidern, Geizkragen und Kriechern bevölkerte Provinz, gegen die die Rückseite des Mondes ein idyllisches Plätzchen sein muss. Danach war nur mehr Rückzug möglich, aber es wurde ein triumphaler.

Am 8. September 1976 erscheinen die ersten vier Nummern von Die Republik, es folgen über 120 in 30 Jahren. Die gemeinsam mit Petra Nettelbeck edierte, zum größeren Teil von ihm selbst geschriebene Zeitschrift ist ein Meteorit, in Brillanz, Furor und Kompromisslosigkeit mit keiner anderen zu vergleichen, es sei denn mit der Fackel von Karl Kraus. Das beweist in diesem viele tausend Seiten umfassenden Werk jede beliebige – jede von Uwe Nettelbeck geschriebene, versteht sich. (Ein zweites Lebenswerk, eine gigantische Montage über das Deutschland des 18. Jahrhunderts, bleibt Fragment.)

Zwei Mächte prallen hier aufeinander, Kamarilla und Künstler. Es ist ein Künstler, der die Idiotien des Feuilletons und des Fernsehens glossiert. Und es ist immer dieselbe Kamarilla, gegen die die Helden der Republik, ob Karl Philipp Moritz, Gustave Flaubert, Herman Melville oder Sam Peckinpah, anrennen, ein Kampf, den sie nicht gewinnen können, aber in dem sie zu ihrer Größe finden. Die Antisemiten, mit denen Moritz ficht, sind durchaus heutige Gestalten, und die Ganoven, denen Peckinpah seine bittersten Filme abtrotzt, keine wesentlich anderen als die zu Shakespeares Zeiten.

Wenn also Nettelbeck unermüdlich Gefasel über Herman Melville protokolliert, bleibt doch immer der Trost, dass »selbst aus der absoluten Asche solchen Plunders, dem Dreck der Journalisten und der Übersetzer, der Redaktionen und der Verlage, der ganzen Bande der Unseligen, den aufzusammeln und auszubreiten mir darum eine Freude war, ein Bild von jenem, eines gegen ihn gelebten Lebens steigt, und wie der von Diamanten strahlend und schöner noch, der Glanz seiner Bücher, und Flammen schlagen, des ewigen Feuers, seines unsterblichen Genies und aller, welche wie er die Glut gehütet haben seit fünftausend Jahren«.

»The great shroud of the sea rolled on as it rolled 5 000 years ago«, seit 5 000 Jahren, seit Anbeginn der Schrift; wie Melville hat auch sein Leser es sich zur Gewohnheit gemacht, die Neuigkeiten nicht zu überschätzen. Wie Melville hält er das Allerneueste für fossil und das Älteste für aktuell. Und wie er hütet er die Geheimnisse von Kunst und Sprache. Das Geheimnis eines guten Satzes etwa liegt stets auf Messers Schneide, ein Komma, die Farbe eines Adjektivs oder ein farbloser Modus können ihn verderben. Alle nahe liegenden Lösungen waren diesem Stilisten die fernsten und Imponderabilien sein täglicher Umgang.

Manchmal, selten sprach er in Bildern darüber. »Die stabilisierenden Essenzen, welche die Basis der Saucen sind, kommen aus den Knochen, aber Fleisch, Gemüse, Kräuter, Gewürze und Weine verbessern den Geschmack. Ich koche sie, da es im Grunde und zunächst ein schmutziges Geschäft ist, und Gesellschaft die Prozedur zwar nicht unbedingt stört, aber jeden, der ihr nur als Zaungast beiwohnt, die Prozedur und der Geruch, am liebsten allein, am frühen Morgen und dann über Nacht, und immer mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Wie es gemacht wird, auf diese oder jene Weise, steht relativ genau in fast jedem Kochbuch, das über die Zubereitung von Saucen spricht, aber die Texte sind von dieser Welt, und sagen nie die ganze Wahrheit.«

Er hätte es vielleicht nicht zu erwähnen brauchen, dass Nachahmung zwecklos ist. Rezepte sind das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben werden, und einen wie ihn wird es nicht wieder geben.