Der große Chávez-Check

Wie kommunistisch ist er wirklich?

Hugo Chávez verkündet den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Aber ist in Venezuela tatsächlich eine Revolution im Gange? Oder geht es nur um soziale Marktwirtschaft? Schmiedet Chávez eine neue Internationale, oder führt er den Latino-Jihad? Hat die Welt wieder eine Hoffnung, oder ist Chávez ein Scharlatan?

Was sagen die anderen?

»Wenn wir vom Feind bekämpft werden, dann ist das gut. (…) Wenn uns der Feind energisch entgegentritt, uns in den schwärzesten Farben malt und gar nichts bei uns gelten lässt, dann ist das noch besser; denn es zeugt davon, (…) dass unsere Arbeit glänzende Erfolge gezeigt hat.« mao tse tung

Die Frage der Feindpropaganda. Lesen wir die bürgerliche Presse! Lesen wir die Zeitungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den stinkenden Kadaver namens Kapitalismus zu verteidigen! Und siehe da, was sehen wir da? Wir sehen, dass die bürgerliche Weltpresse in einen Wettlauf getreten ist, Hugo Chávez aufs Schändlichste zu diffamieren. »Anwärter auf Saddams Platz in der Achse des Bösen«, droht die Newsweek, einen »Unterstützer des globalen Terrorismus«, schimpft der Weekly Standard, »Fischkopp«, sagt die Jungle World – kübelweise Jauche, wohin man auch schaut. Der US-Fernsehprediger Pat Robertson ruft sogar dazu auf, Chávez »auszuschalten«. So betrachtet ist die Sache glasklar: Chávez’ Politik ist richtig und nicht falsch und gut und nicht schlecht. (5/5)

Hat jeder was zu tun?

»In dem Maße, wie die Arbeit im traditionellen Sinn des Wortes abstirbt, wird sie durch eine schöpferische Praxis universell entwickelter und gesellschaftlich integrierter Persönlichkeiten ersetzt.« ernest mandel

Die Frage der Arbeit. Wie weit ist Venezuela auf dem Wege fortgeschritten, die Arbeit im »traditionellen Sinn« durch die »schöpferische Praxis entwickelter und gesellschaftlich integrierter Persönlichkeiten« zu ersetzen? Nicht weit. Allerdings kann ein Staat im Übergang zum Kommunismus diese Forderung kaum erfüllen. Der Aufbau des Kommunismus braucht die Arbeiter, und die Arbeiter brauchen Arbeit.

Dank Chávez und der Programme zur Bekämpfung der Armut, der »Bolivarischen Missionen«, finden immer mehr Venezolaner welche. Betrug die Arbeitslosigkeit 1999 16,6 Prozent, waren es 2006 nur noch 9,5 Prozent. Zwar ist rund die Hälfte der Beschäftigten im »informellen Sektor« tätig, doch will die Regierung sie in reguläre Arbeitsverhältnisse überführen. Dabei hat Chávez schon große Fortschritte erzielt. Sein ältester Bruder Adán Chávez etwa ist inzwischen Erziehungsminister. Sein Vater Hugo de los Reyes Chávez ist Gouverneur der Provinz Barinas. Und sein Cousin, Asdrubal Chávez, leitet das nationale Erdölunternehmen PDVSA. Arbeit für alle eben. (2/5)

Ist er Pop?

»Man muß sich abgewöhnen, die Kultur als enzyklopädisches Wissen zu begreifen, wobei der Mensch nur wie ein Gefäß betrachtet wird, das mit empirischen Daten und rohen, unzusammenhängenden Fakten anzufüllen ist (…). Diese Form der Kultur ist wahrhaft schädlich, besonders für das Proletariat.« antonio gramsci

Die Frage der kulturellen Hegemonie. Waffen allein genügen nicht; wer die Macht will, muss die Köpfe und Herzen der Menschen gewinnen, muss die kulturelle Hegemonie erringen. In diesem Kampf leistet Chávez Unerhörtes. Statt die Sache unzuverlässigen Bücherschreibern und Liedermachern zu überlassen, legt er selbst Hand an: jeden Sonntag in seiner Fernsehshow »Aló Presidente«. In der mehrstündigen Sendung, die vom staatlichen Sender live übertragen wird, hält er politische Reden, erzählt Anekdoten, reißt Witze, singt Lieder, rezitiert Gedichte und beantwortet Fragen des Publikums. Immer sind weitere führende venezolanische Politiker und Beamte anwesend, müssen aber aufpassen, dass sie nicht unter dem Gejohle der Zuschauer vor laufenden Kameras entlassen werden. Denn oft wiegeln Showmaster und Publikum sich gegenseitig zu dionysischen Ekstasen auf, neben denen jedes WM-Finale, jedes Konzert von Tokio Hotel und jeder Reichsparteitag wie eine buddhistische Meditationsübung anmuten.

Auch sonst versteht Chávez etwas von Pop: George W. Bush, nennt er am liebsten »Mr. Danger«, was nach einem Superbösewicht aus einem Superhelden-Comic klingt. Wenn er nach Bush vor der UN spricht, bekreuzigt er sich und meint, man könne den Schwefel riechen, den der Teufel hinterlassen habe. Dann schickt er verbilligtes Heizöl in die South Bronx, um armen US-Amerikanern zu helfen. Dafür hapert es anderer Stelle. »Wie das Öl gepumpt wurde«, der große Roman über die Bolivarische Revolution, ist noch nicht geschrieben, der Revolutionsfilm »Fallschirmspringer Hugo« nicht gedreht, die Hymne »Comandante Chávez« nicht gesungen. Tipp: mal Gerhard Zwerenz, Sönke Wortmann und Diether Dehm fragen! (4/5)

Weiß er, was er tut?

»Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« theodor w. adorno

Die Theoriefrage. Nicht jeder kommunistische Gelehrte war im Hauptberuf Staatsmann. Aber jeder kommunistische Staatsmann von Rang war im Nebenberuf Gelehrter. Lenins Schaffen ist in 42 Bänden überliefert, womit er auf gleicher Höhe liegt wie Marx und Engels zusammen. Noch dicker ist nur das Werk von Kim Il-Sung, auch wenn er sich mit Trinksprüchen, Kochrezepten und Einkaufszetteln aushalf, um 44 Bände zu füllen. Dabei muss es nicht immer ein wuchtiger Klotz im Regal sein, auch Weisheiten im Pocketformat wie Maos »Worte des Vorsitzenden«, Marighelas »Handbuch des Stadtguerillero« oder Gaddafis »Grünes Buch« können zweckdienlich sein. Fest aber steht, dass eine revolutionäre Praxis nicht ohne revolutionäre Theorie möglich ist. In dieser Hinsicht hat Hugo Chávez nichts zu bieten. Sein theoretisches Schaffen reduziert sich auf Gesprochenes. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts scheint es nicht nötig zu haben, seine revolutionären Gedanken in eine bleibende Form zu bringen. Es reicht keineswegs, auf der Uno-Generalversammlung mit einem Buch von Noam Chomsky herumzufuchteln und die Transkriptionen seiner Fernsehshows ins Internet zu stellen. Auch dann nicht, wenn zum Beleg des Erfolgs der Applaus der Kameraassistenten minutiös protokolliert wird.

Chávez hält Jesus für den größten Sozialisten aller Zeiten. Wenn dem so ist, brauchen Venezuela und der Rest der Welt weder einen Chávez noch eine Sozialistische Einheitspartei. Denn eine international operierende Partei neuen Typs, die sich auf das Neue Testament beruft, existiert bereits seit 2 000 Jahren: die katholische Kirche. (0/5)

Hat jeder was davon?

»Die materielle Voraussetzung des Kommunismus muss eine so hohe Entwicklung der ökonomischen Macht des Menschen sein, dass die produktive Arbeit aufhört, Last und Mühsal zu bedeuten, und der Antreiberei nicht mehr bedarf; und die Verteilung der ständig im Überfluss vorhandenen Lebensgüter (…) keiner anderen Kontrolle bedarf als der der Erziehung, der Gewohnheit, der öffentlichen Meinung.« leo trotzki

Die Verteilungsfrage. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat Chávez auf diesem Gebiet ein Wunder vollbracht. Fast alle sind mit ihm zufrieden. Die Armutsrate sank seit 1999 um neun Prozent, obwohl der Budgetanteil der Sozialausgaben etwas niedriger ist als vor seinem Amtsantritt. Der private Sektor verzeichnete im vorigen Jahr ein Wirtschaftswachstum von etwa zehn Prozent, es wurden doppelt so viele Autos importiert, der Whiskyverbrauch stieg um 55 Prozent. Ständig betrunken, wird die Bourgeoisie gar nicht merken, wenn sie enteignet wird.

Falls das überhaupt nötig ist. Denn unter Chávez wird nicht umverteilt, es wird verteilt. Das Geld, das für Bildungs- und Gesundheitskampagnen ausgegeben wird, nimmt er nicht den Reichen. Er entnimmt es der Staatskasse, die dank der hohen Einnahmen durch den Ölverkauf prall gefüllt ist. Das entspricht nicht ganz der sozialistischen Theorie, man kann dies jedoch als Abkehr von der puritanischen Strenge begrüßen, mit der frühere Revolutionäre umverteilten. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts macht alle glücklich. Es sei denn, der Ölpreis sinkt. (3/5)

Darf jeder mitreden?

»Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat.« friedrich engels

Die Machtfrage. In den klassischen Schriften des Marxismus-Leninismus war es nicht vorgesehen, dass ein Oberstleutnant den Sozialismus verordnet. Auch der Begriff der Partizipation war unbekannt, das Proletariat sollte so unbescheiden sein, sich nicht mit einer Teilhabe zufrieden zu geben.

Die Bildung Bolivarianischer Zirkel und die Subventionierung sozialer Bewegungen vergrößern den Einfluss armer Bevölkerungsgruppen. Auch wenn diese Erweiterung demokratischer Rechte auf dem Boden des bürgerlichen Staatswesens erfreulich ist – die wirklich wichtigen Dinge wie die Verwaltung des staatlichen Ölkonzerns will Chávez nicht dem Pöbel überlassen.

Lenin sagte: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Damit meinte er nicht, dass der Chef alle kontrollieren soll, vielmehr sprach er von der Kontrolle, die die Arbeiterklasse über ihre gewählten und jederzeit abwählbaren Vertreter ausüben muss. Chávez hingegen ließ sich die Vollmacht erteilen, per Dekret zu regieren, und will über die von der Verfassung vorgesehene Zeit hinaus Präsident bleiben. Wahrscheinlich bis er, wie Lenin, einbalsamiert wird. (2/5)

Wie hält er’s mit den Frauen?

»Wie der Arbeiter vom Kapitalisten unterjocht wird, so die Frau vom Manne; und sie wird unterjocht bleiben, solange sie nicht wirtschaftlich unabhängig dasteht.« clara zetkin

Die Geschlechterfrage. Loben wir zunächst den guten Willen: Viele Feministinnen halten die Verfassung für die fortschrittlichste der Welt. Darin wird beispielsweise der Wert der Arbeit von Hausfrauen anerkannt und ein Recht auf Entlohnung festgeschrieben. An den Gesetzen wird noch gearbeitet. Jüngst wurde das weltweit einzigartige »Gesetz für das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt« verabschiedet, das für Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch bis 15 Jahre Haft vorsieht. Stets werden geschlechtsneutrale Formulierungen benutzt. 10 000 Treffpunkte für Frauen sollen die Selbstorganisation des weiblichen Teils der Bevölkerung stärken. Die im Jahr 2002 eingerichtete Bank für Frauen vergab im vergangenen Jahr 12 460 Kleinkredite an Frauen und übertraf damit ihre Ziele um 63 Prozent.

Allerdings kommt auch die Bolivarische Revolution weitgehend ohne Frauen in Führungspositionen aus; nur fünf der 25 Ministerien werden von Frauen geleitet. Chávez scheint es mit Gerhard Schröder zu halten, die meisten Ministerinnen sind nur für Gedöns zuständig: Umwelt, Ernährung oder Indigene, eine darf sich immerhin um die »leichte Industrie« kümmern. Und bis zur völligen Aufhebung der gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen ist es noch ein weiter Weg, bei dem sich frau besser nicht von einem Offizier anführen lassen sollte. (3/5)

Ist er weltgewandt?

»In Bezug auf die zurückgebliebeneren Staaten und Nationen (…) muss man insbesondere im Auge behalten: (…) die Notwendigkeit, den Panislamismus und ähnliche Strömungen zu bekämpfen, die die Befreiungsbewegung gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus mit einer Stärkung der Positionen der Khane, der Gutsbesitzer, der Mullahs usw. verknüpfen wollen.« wladimir i. lenin

Die Internationalismusfrage. Jedes Kind weiß, dass eine Revolution ohne Internationalismus nichts taugt; dass der Kommunismus entweder die ganze Welt umfasst oder nicht sein wird. Wem aber gilt die Solidarität der Revolutionäre? Den Guten natürlich, wem denn sonst? Chávez sagt, die Bolivarische Revolution sei Teil einer weltweiten Bewegung. Doch unter seinen Bündnispartnern finden wir nicht nur Fidel Castro, Evo Morales und die globalisierungskritische Bewegung, sondern auch Gestalten wie Alexander Lukaschenko, Robert Mugabe und Mahmoud Ahmadinejad.

Chávez scheint sich bei seiner Suche nach Verbündeten an Berichten von Amnesty International zu orientieren und dabei der Maxime zu folgen: Wer die schlechteste Bewertung bekommt (und nicht schon mit den Imperialisten paktiert), der ist mein Freund. Sage keiner, dass solche unschönen Dinge in der internationalen Politik üblich seien. Denn Chávez treibt nicht nur Geschäfte mit dem Iran und hat rund 120 bilaterale Verträge unterzeichnet; nein, er versäumt keine Gelegenheit zu beteuern, wie klasse er die Mullahs findet. Erst am vorigen Wochenende, als Ahmadinejad zum dritten Mal innerhalb von sechs Monaten in Venezuela vorbeischaute, ließ Chávez wissen: »Unsere zwei Revolutionen, die Islamische Revolution und die Bolivarische Revolution in Venezuela, sind am Ende ein einziger Kampf.« Dessen Ziel was ist? Die Vernichtung Israels vielleicht? (0/5)