Kopieren geht über krepieren

Indien ist der größte Produzent von Generika, billigen Kopien herkömmlicher Medikamente. Mit einer Patentschutzklage will der Pharmakonzern Novartis das ändern. von niklas luhmann

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass Gesundheit eine Ware ist. Der Patient ist ein Konsument, die Gesetzmäßigkeiten des Marktes sowie die individuelle Kaufkraft entscheiden darüber, ob und wie er sich behandeln lassen kann. Bereits Ende der siebziger Jahre propagierte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Formel »Gesundheit für alle«, doch ein grundsätzliches Recht auf medizinische Versorgung ist nur in we­nigen Gesellschaften Wirklichkeit.

Nach Schätzungen des HIV/Aids-Programms der Vereinten Nationen sind weltweit beispielsweise etwa 40 Millio­nen Menschen mit dem HI-Virus infiziert. Alleine in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara leben etwa 24,7 Millionen und in Süd- und Südostasien 7,8 Millionen Menschen mit der Virusinfektion. Insgesamt benötigen schätzungsweise 6,5 Millionen Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern umgehend eine antiretrovirale Behandlung. Doch trotz zunehmender Finanzierungshilfen erhalten derzeit nur rund 25 Prozent der Patienten ihre lebensnotwendigen Arzneien.

HIV/Aids wie auch Tuberkulose, Malaria und die Schlafkrankheit sind vorrangig in armen Ländern verbreitet, wo nur ein kleiner Teil der Bevölkerung krankenversichert ist oder sich eine Behandlung zu Marktpreisen leisten kann. Je billiger die Medikamente, desto größer die Zahl von Kranken, die behandelt werden können.

Eine Alternative zu den teuren Markenprodukten westlicher Pharmakonzerne sind seit einigen Jahren die Generika geworden, Nachahmerprodukte, die die gleichen Wirkstoffe enthalten. Der weltweit größte Hersteller von Generika ist derzeit Indien, über die Hälfte aller in Schwellen- und Entwicklungsländern verwendeten HIV-Medikamente wird dort hergestellt. Als verschiedene Firmen in Indien vor einigen Jahren mit der Produktion von HIV-Medikamenten begannen, verschärfte sich der Wettbewerb, und der Preis für die Behandlung eines Aidspatienten sank rapide von 10 000 auf 130 US-Dollar pro Jahr.

Möglich war dies vor allem deshalb, weil Indien den Produktpatentschutz für Pharmazeutika 1972 beseitigt hatte. Doch zu Beginn des Jahres 2005 trat das Land der Welthandelsorganisation (WTO) und damit auch dem so genannten Trips-Abkommen bei. Dieses »Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum« verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, einen Patentschutz auf alle Produkte, auch auf Medikamente, zu gewähren.

Um die Folgen zu mildern, legt der Paragraf 3(d) des neuen indischen Patentrechts fest, dass Modifizierungen bereits bekannter Stoffe keinen Patentschutz genießen. Auf dieser Rechtsgrundlage entschied das indische Patentamt im Januar 2006, dass das Krebsmedikament Glivec nicht dem Patentschutz unterliegt, weil es sich nicht um eine neue Erfindung handele, sondern nur um eine Weiterentwicklung eines bereits bekannten Wirkstoffs. Der Hersteller, das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis, klagte gegen die Entscheidung und gegen den Paragrafen, der modifizierte Produkte vom Patentschutz ausschließt. Am kommenden Montag wird in Chennai im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu die zweite Anhörung vor dem obersten indischen Zivilgericht stattfinden.

Viele Nichtregierungsorganisationen befürchten, dass im Falle eines Erfolgs der Novartis-Klage Indien beginnen müsste, Patente in ähnlicher Weise zu gewähren, wie das in den wohlhabenden Industrienationen der Fall ist. Dort sind Arzneimittel oft durch zahlreiche Patente geschützt, die auch mögliche Modifizierungen abdecken. Eine solche Regelung könnte schon in den nächsten Jahren die Produktion und den Export von günstigen Generika­pro­duk­ten gefährden, die höheren Arzneimittelkosten würden dann Millionen von Menschen lebensnotwendige Medikamente verwehren. Zum Protest vor dem obersten Zivilgericht rufen u.a. das Indian Lawyers Collective und indische HIV- und Krebsselbsthilfegruppen auf.

Tobias Luppe, der Referent der Medikamentenkampagne von »Ärzte ohne Grenzen«, sagte der Jungle World: »Es geht darum, dem größten Generikaproduzenten der Welt den Saft abzudrehen. Es handelt sich sicherlich um einen Präzedenzfall, und Novartis geht es keinesfalls nur um den konkreten Fall Glivec. Würden sie die Klage gewinnen, wäre dies ein eindeutiges Signal, dass das indische Patentrecht in seiner jetzigen Form nicht den Bestimmungen der WTO und des Trips-Abkommens entspricht. Der Paragraf 3(d) des indischen Patentrechtes wird dann höchstwahrscheinlich überarbeitet oder erneuert werden müssen. Der Patentschutz würde verstärkt werden, und das hätte etwa auch ganz konkrete Folgen für anhängige Patente von wichtigen und lebensnotwendigen HIV-Medikamenten.«

»Der beste Weg, Innovation zu ermutigen, ist der Respekt vor geistigem Eigentum«, behauptet Novartis. Nur so ließe sich auch in Zukunft die teure Entwicklung neuer Medikamente sicherstellen. Kritiker weisen darauf hin, dass der Werbeetat der Konzerne weit höher ist als das Forschungsbudget und dass es einen Forschungsanreiz unter Marktbedingungen nur bei Krankheiten gibt, unter denen zahlungsfähige Kunden leiden. »Mitt­lerweile ist es doch fast Konsens, dass die sehr strengen Patentrechte eine Innovationslandschaft geschaffen haben, die viel mit Business und kaum mehr mit Gesundheit zu tun hat«, sagt Luppe.

Der Markt für Pharmaprodukte in Entwicklungsländern lohnt aufwändige Forschungen nicht, nur wenige Medikamente werden gegen Krankheiten entwickelt, die nur oder überwiegend in armen Staaten oder unter verarmten Bevölkerungsgruppen auftreten. Täglich sterben etwa 35 000 Menschen an Krankheiten, gegen die es keine wirksamen Medikamente gibt, und unter den knapp 1 400 Medikamenten, die in den vergangenen 25 Jahren weltweit entwickelt wurden, waren gerade einmal 13 Präparate, die gegen armutsbedingte Krankheiten wirken.

Lohnender ist die Entwicklung von Lifestyle-Präparaten gegen Haarausfall, Übergewicht und Erektionsstörungen. Nicht die Förderung der pharmazeutischen Forschung nach Wirkstoffen gegen die tödlichsten und am weitesten verbreiteten Krankheiten steht im Zentrum der europäischen und deutschen Politik, sondern die Konkurrenzfähigkeit im riesigen, gewinnbringenden medizinisch-industriellen Komplex. Auf einem strengen Patentrecht zu bestehen, verschafft den etablierten westlichen Konzernen einen Wettbewerbsvorteil.

Allein die Generikaproduktion kann die Gesundheitsversorgung in armen Ländern nicht sicherstellen. Ob der Paragraf 3(d) des indischen Patentgesetzes weiterhin gültig sein wird, ist für viele Millionen Menschen jedoch eine lebenswichtige Frage.