Pfeifen, schießen, Halleluja singen

»Für ein paar Leichen mehr« ist das definitive Lexikon der Italo-Western. von uli krug
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Allein schon die Titel der Italo-Western waren so einprägsam, dass sie bis zum heutigen Tag zuverlässig mit dem Genre verbunden werden. Ein sinnfrei in den Filmnamen eingefügtes »Halleluja« ist zum Beispiel ein eindeutiges Merkmal, für das allerdings nahezu ausschließlich die Texter der deutschen Verleihfirmen verantwortlich waren. Noch beliebter waren jedoch Italo-Western mit einem exotisch klingenden Namen, der auf »-a« oder »-o« endete und dem dann nach einem Gedankenstrich ein sinis­trer Halbsatz folgte.

Sergio Corbuccis »Django« von 1966 löste einen unvergleichlichen Boom aus. Franco Nero schoss in dem Film als schweigsamer Rächer in zerschlissenen Kleidern reihenweise rassistische Südstaatler über den Haufen. Im Laufe weniger Jahre entstanden Hunderte weitere Italo-Western: Von »Django – sein Gesangbuch war der Colt« über »Sartana – noch warm und schon Sand drauf« bis zu »Die fünf Gefürchteten und ein Halleluja«, um nur einige besonders prägnante Titel zu nennen.

Ein nicht kleiner Teil dieser Western wurde billig und vorzugsweise in der Umgebung Roms oder in Südspanien produziert. Er sollte ohnehin nur in Bahnhofskinos oder in jenen Lichtspielhäusern der B-Kategorie verwertet werden, die in dem Zeitalter, in dem die Videorecorder noch nicht sonderlich weit verbreitet waren, für harte Action und softe Pornografie zuständig waren. Bis diese Kinos endgültig verschwanden, konnte man dort noch in der Mitte der achtziger Jahre ab und an auch die höherklassigen Streifen mit dem jungen Clint Eastwood, Franco Nero, Lee Van Cleef, Giuliano Gemma, Tomás Milian oder Gianni Garko zu Gesicht bekommen. Danach fristete der Italo-Western dann sein kärgliches Dasein ausschließlich als preisgünstiges, teilweise unverständlich zusammengeschnittenes und verheerend synchronisiertes Füllmaterial des Privatfernsehens, wochentags nach Mitternacht.

Doch in den vergangenen Jahren wurde das Genre von seinem Schmuddel-Image befreit. Berühmte Regisseure wie Quentin Tarrantino oder John Woo lassen sich von ihm inspirieren, vorzugsweise natürlich von den herausragenden Epen Sergio Leones, »Für eine Hand voll Dollar«, »Für ein paar Dollar mehr«, »Zwei glorreiche Halunken« und »Spiel mir das Lied vom Tod«, die zwischen 1964 und 1968 in die Kinos kamen. Ennio Morricone ließ als Pionier der völlig neuartigen Italo-Filmmusik Stilmittel wie Schreie, gepfiffene Melodien, mexikanische Trompeten, E-Gitarren und Soundeffekte aller Art einfließen. Er wird im Februar den Oscar für sein Lebenswerk erhalten. 3 Sat und die dritten Programme zeigten in den vergangenen Monaten vergessene Glanzstücke wie Enzo Girolamis psychedelischen Spätwestern »Keoma« von 1976.

Und nun gibt es endlich auch die Neuauflage eines Standardwerks über die Italo-Western: Ulrich Bruckners »Für ein paar Leichen mehr«. Dieses Kompendium, dessen Titel natürlich einem Film entlehnt ist, bietet über 700 reich bebilderte und klar gegliederte Seiten. Man sieht den Beatles-Drummer Ringo Starr als finsteren Bösewicht in Ferdinando Baldis bizarrem Machwerk »Blindman, der Vollstrecker« von 1971 ebenso wie Pier Paolo Pasolini als revolutionären Armenpriester in Carlo Lizzanis »Requiescant – Mögen sie in Frieden ruhen« von 1967. Auch lässt Bruckner keine cineastischen Fragen mehr offen: Jeder Drehort und jede Besetzung sind minutiös recherchiert, zeitgenössische Filmbesprechungen sind ebenso gesammelt wie die beeindruckenden Originalfilmplakate. Wichtige Protagonisten sind eingehend porträtiert, und auch dem nahezu Entscheidendsten am Italo-Western, den Soundtracks nämlich, wird ein breiter Raum gewidmet. Obendrein ergänzt ein ebenso gewissenhaft zusammengestelltes Register nicht aus Italien stammender Euro-Western das kaum zu übertreffende Buch.

Was aber macht die fortbestehende Faszination des Italo-Westerns aus, wo doch die Gattung derart unzeitgemäß ist, dass seit nahezu drei Jahrzehnten kein Film dieser Machart mehr gedreht wurde? Wie es sich für ein Buch von einem Fan für Fans gehört, muss Bruckner diese Frage weder explizit stellen noch beantworten. Er beschränkt sich auf eine kurze Einführung in die Filmhistorie des Italo-Westerns, seine technischen und ästhetischen Neuerungen, seine kommerziellen Erfolge und vor allem seine typischen Handlungsmotive, Story­lines, Landschaften, Settings und Charaktertypologien. Nach Lektüre dieses Textes lässt sich die Frage nach der Faszination jedoch beantworten.

Erstens markiert der Italo-Western die Ankunft des Films im Popzeitalter wie außer ihm höchstens noch die amerikanischen Blaxploitation-Krimis der frühen siebziger Jahre. Die Filmmusik begleitete die Handlung nicht mehr nur, sie wurde zu ihrem Bestandteil, gab den Rhythmus des Geschehens vor und verwob sich untrennbar mit den gezeigten Charakteren. Wer Clint Eastwood in seiner Rolle als »Blonder« sieht, denkt zwangsläufig an das zugehörige musikalische Thema Morricones.

Zweitens brachte der Italo-Western ein bis dahin unerhörtes Maß an häufig nicht gerade geschmackssicherer Darstellungsdrastik. Sie sorgte dafür, dass die betulichen Abenteuerfilme dem modernen Actionspektakel wichen. Aus Schusswunden trat Blut aus, Schlägereien führten zu verschwollenen Gesichtern, und eine Soldateska benahm sich so, wie es eine Soldateska eben tut, nämlich überaus schlecht, roh und gemein.

Und drittens: Kein Filmgenre ist enger mit der Bewegung der 68er verbunden. Der Italo-Western setzte geradezu die damals hoch im Kurs stehenden voluntaristischen Revolutionskonzepte ästhetisch um. Hier wie dort regierte der blanke Wille zorniger junger Männer, wobei es ihnen zum ersten Mal in der Geschichte des Westerns auch die Frauen gleichtun durften.

Bestehende, immer als korrupt gezeichnete Machtverhältnisse sollten umgestürzt werden. In vielen Filmen verwob sich das typische Motiv der individuellen Rache des Helden mit einem Eintreten für die von raffgierigen Eliten Entrechteten, die meist in der Gestalt mexikanischer Bauern und Handwerker auftraten. Revolutionswestern wie »Todesmelodie« von Sergio Leone aus dem Jahr 1971 oder »Mercenario – der Gefürchtete« von Sergio Corbucci von 1968 hatten die Beziehung zwischen einem europäischen Revolutionär im Exil und einem einheimischen Gauner zum Thema. Dies wurde wiederum in revolutionären Zirkeln als Verbindung »studentischer Avantgarden mit trikontinentalen Massen« gedeutet.

In der Mischung aus Rache und Revolution liegt das heute noch Überwältigende eines guten Italo-Westerns und zugleich die Beschränktheit des ganzen Genres: Als die Guerillas der so genannten Dritten Welt wie der Metropolen das zweite, hässliche Gesicht der Revolution zeigten, war auch der Nimbus der rebellischen Revolverhelden auf der Leinwand dahin.

Ulrich Bruckner: Für ein paar Leichen mehr. Der Italo-Western von seinen Anfängen bis heute. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2006, 731 S., 29,90 Euro