Gott schwer beleidigt

Der politische Islam gewinnt in Marokko an Einfluss. Die Verurteilung zweier Journalisten des Satireblatts En Nichane wegen Gotteslästerung ist kein Zufall. von bernhard schmid

Seien wir froh, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist! Mit dieser pragmatischen Haltung wurde das Urteil aufgenommen, das als solches immer noch als skandalös gelten muss. Am 15. Januar verurteilte ein Gericht in der marokkanischen Metropole Casablanca das satirische Wochenmagazin En Nichane zu einem zwei­monatigen Erscheinungsverbot. Der presserechtlich Verantwortliche Driss Ksikes und die Journalistin Sanaa El-Aji wurden zu je drei Jahren Haft auf Bewährung sowie einer Geldbuße in Höhe von umgerechnet 7 200 Euro verurteilt.

Begründet wurde die Strafe mit der »Verletzung heiliger Werte« sowie der »Veröffentlichung und Verbreitung von Schriften, die gegen die Moral und die guten Sitten verstoßen«. Mit den »heiligen Werten« sind die islamische Religion einerseits und die marokkanische Monarchie andererseits gemeint.

Anlass für die Anklage und den Urteilsspruch war eine Titelgeschichte über Witze, die das erst seit wenigen Monaten existierende Wochenmagazin in seiner Ausgabe vom 9. Dezember publiziert hatte. Sanaa El-Aji zeichnete als Redakteurin dafür verantwortlich. Darin wird dargestellt, »wie die Marokkaner über die Religion, über Sex und Politik lachen«. Alles in allem war die Geschichte nicht sonderlich spektakulär, da die Zeitschrift nach eigenem Bekunden noch die harmloseren unter den Witzen, die im Königreich zum Thema Politik, Religion und Sex zirkulieren, herausgesucht hatte.

Aber wie in jeder konservativen Gesellschafts existiert eine Doppelmoral: Das, was verboten oder »unschicklich« ist, wird insgeheim von vielen geschätzt und praktiziert – aber in der Öffentlichkeit umso heftiger verurteilt. Allerdings waren es nicht die Leser des Magazins, die an der Geschichte Anstoß nahmen. Erst nach der einwöchigen Verkaufsperiode, also nachdem das Wochenmagazin schon wieder von den Kioskwänden verschwunden war, ging der Skandal los.

Eine islamistische Webpage klagte die Journalisten an, »Gott schwer beleidigt« zu haben. Eine islamistisch beeinflusste Studierendengewerkschaft in Kenitra nahm daraufhin die Sache in die Hand und verteilte Flugblätter, auf denen die Bestrafung »des Verbrechens« gefordert wurde. Die Mailadressen der Journalisten wurden bekannt gemacht, woraufhin die beiden zahlreiche Morddrohungen erhielten. Ein Teil der marokkanischen Presse schloss sich der Kampagne an. Im fernen Kuwait, am anderen Ende der arabischen Welt, publizierte eine Versamm­lung von religiösen Gelehrten ein Kommuniqué, das im Tonfall und Aufbau an eine Fatwa erinnert. Am 20. Dezember erließ der marokkanische bürgerlich-nationalistische Regierungschef Driss Jettou ein vorläufiges Verbot des Wochenmagazins. Es kam zur Anklage und zum Prozess.

Das Urteil bleibt jedoch weit hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück. Sie forderte in ihrem Plädoyer am 8. Januar eine drei- bis fünfjährige Haftstrafe ohne Bewährung sowie eine definitive Schließung der Redaktion und ein Berufsverbot für die beiden Angeklagten. Hinzu kommen sollte eine Geldstrafe zwischen umgerechnet 900 und 9 000 Euro.

Die in Paris ansässige internationale Vereinigung »Reporter ohne Grenzen« attackierte daraufhin in einem scharfen Kommuniqué »ein unsinniges und archaisches Plädoyer« des Staatsanwalts. Die Forderungen der Staatsanwaltschaft waren umso exorbitanter, als die Anklage wegen eines Verstoßes gegen das Pressegesetz erfolgte, aber ein Berufsverbot gar nicht aufgrund des Presse-, sondern allein des Strafrechts ausgesprochen werden kann.

Als dann der Richterspruch fiel, erklärte der presserechtlich Verantwortliche Driss Ksikes der Nachrichtenagentur AFP erleichtert: »Ich bin zufrieden, dass der Richter nicht den Forderungen des Staatsanwalts nachgekommen ist, insbesondere der nach einem Berufsverbot.« Dennoch werde er Berufung gegen das Urteil einlegen. Das habe immerhin den Verdienst, »dass es die Debatte über die Freiheitsstrafen für Journalisten wieder anfacht«. Ahmed Benchemsi, der Chef des seit langem existierenden französischsprachigen Wochenmagazins Tel Quel, das zur selben Unternehmensgruppe gehört wie die arabischsprachige Zeitschrift En Nichane, argumentiert ähnlich. »Wir sind zufrieden, dass das Berufsverbot nicht verhängt und dass die Haftstrafe auf Bewährung ausgesetzt wurde. Auch wenn wir finden, dass drei Jahre Haft viel ist.«

Indessen gab es aber auch Unmutsäußerungen in Marokko. Auf diversen Weblogs wird längst heftig debattiert. Eine Solidaritätspetition findet eine Reihe von Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern, unter www.nichane.ma/communique/petition/.

Erleichtert zeigte sich aber auch der für Presse und Kommunikation zuständige Minister im marokkanischen Kabinett, Nabil Benabdallah. Er sagte, er sei froh, dass die Journalisten keine Haftstrafen ohne Bewährung davongetragen hätten, und fügte hinzu: »Der Gesetzesentwurf, der die bestehenden Haftdrohungen gegen Journalisten in 20 Paragrafen aufheben wird, wird in diesem Frühjahr dem Parlament vorgelegt werden.«

Haftstrafen für Pressedelikte würden, wenn das Gesetz in der angekündigten Form verabschiedet wird, dann noch in vier Paragrafen des Pressegesetzes stehen bleiben. Es bliebe allerdings auch dann noch bei der Androhung von Freiheitsstrafen für journalistische »Angriffe« auf einen geschützten Bereich. Zu diesem gehören der Bestand und die »Ehre« der Monarchie, die »territoriale Integrität« Marokkos – dieser Begriff umschreibt den Anspruch auf die seit 1975 okkupierte Westsahara – sowie das prinzipielle Verbot der Blasphemie.

Angriffe auf den Islam gelten zugleich als Attacken gegen die Monarchie, da der sunnitische Islam im konservativen und postfeudal verfassten Marokko als Staatsreligion gilt. Der Status des Königs als Amir al-mouamim (»Befehlshaber der Gläubigen«) ist offiziell festgeschrieben. Dies hat lange Jahre hindurch das Aufkommen des politischen Islam als eigenständige Bewegung verhindert, da die Religion gleichermaßen verstaatlicht war – aber nicht im Sinne eines islamistischen Staatsverständnisses, demzufolge alles staatliche Handeln sich mit dem Koran legitimieren muss.

Seit Anfang dieses Jahrzehnts gewinnt nun der politische Islam auch in Marokko an Einfluss, mit einer gewissen Verspätung im Vergleich zu Nachbarländern wie Algerien, aber nunmehr relativ heftig. Die legale »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (PJD), die eher den konservativen und die Monarchie respektierenden Flügel des Islamismus repräsentiert – neben ihr existieren auch mehr oder minder illegale, sozialpopulistisch und pseudorevolutionär auftretende Varianten –, dürfte mit hoher Wahr­scheinlichkeit die nächsten Parlamentswahlen gewinnen. Sie finden in diesem Jahr, spätestens im September, statt. Ob im Falle ihres Regierungseintritts die geplante Liberalisierung des Presserechts beibehalten wird, bleibt abzuwarten. Mit dem Urteil gegen En Nichane zeigten sich Politiker der PJD eher unzufrieden, da sie sich eine härtere Bestrafung erhofft haben.