Normaler Irrsinn

Mutmaßungen über ein Land, seine Leute und seine Mörder. von deniz yücel

Wir wollen etwas machen, was Linke aus guten Gründen für gewöhnlich unterlassen. Wir wollen uns nicht mit sozioökonomischen Fragen beschäftigen und wenig mit politischen, uns stattdessen dafür interessieren, wie eine Gesellschaft tickt.

Am 23. Juni 2006 wird der 30jährige Cemal Yaman im nordanatolischen Bafra von seinem etwas jüngeren Freund Baris Agçe mit 47 Messerstichen erstochen. Sie hatten im Haus des Opfers ein Fußballspiel im Fernsehen verfolgt. Danach sei ein Streit ausgebrochen, sagt der Täter später. Yaman habe sich abfällig über Agçes Frau geäußert und ihn als »Hornochsen« beschimpft. Daraufhin habe Agçe die Kontrolle verloren.

Am 21. Oktober 2006 wird die 15jährige Naile Erdas im osttürkischen Baskale auf offener Straße mit vier Schüssen getötet. Sie war nach einer Vergewaltigung schwanger geworden, konnte dies aber bis zur Geburt verbergen. Im Krankenhaus wird sie unter Polizeischutz gestellt, aber nach wenigen Tagen nach Hause geschickt. Sie stirbt noch am selben Abend. Ihr Vater sagt, er habe sich einer Entscheidung des »Familienrats« gebeugt, der die »Ehre der Sippe« retten wollte. Ihr Mörder ist ihr um ein Jahr älterer Bruder.

Am 18. Januar 2007 wird in Rize am Schwarzen Meer der 50jährige Hüseyin Firtina auf der Straße von einem Unbekannten erschossen. Zeugen berichten von einem vorangegangenen Wortgefecht, das damit begonnen habe, dass der angetrunkene Firtina seinen Mörder mit den Worten anpöbelte: »Was guckst du mich so schief an?«

Am nächsten Tag wird in Istanbul Hrant Dink von dem 16jährigen Ogün Samast erschossen. »Der Armenier hat die Türken beleidigt«, sagt der Mörder.

Jedes Schulkind könnte sagen, was diesen Mord von den anderen Fällen unterscheidet. Interessant aber sind die Gemeinsamkeiten, die sich nicht darauf beschränken, dass die Umstände der Ermordung des Journalisten an die so genannten Ehrenmorde erinnern, mit denen oft minderjährige Familienmitglieder beauftragt werden, weil sie auf ein geringeres Strafmaß hoffen dürfen.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem türkische Medien nicht von Fällen wie den geschilderten – und willkürlich herausgegriffenen – berichten. Wer aufmerksam verfolgt, wie oft normale Leute aus nichtigen Ereignissen andere umbringen, kann bald an der Zurechnungsfähigkeit dieser Gesellschaft zweifeln. 806 Menschen wurden einem in der vorigen Woche veröffentlichten amtlichen Bericht zufolge zwischen den Jahren 2001 und 2006 zu Opfern eines »Ehrenmordes«. Auch wenn die Mordquote in der Türkei niedriger ist als hierzulande – gäbe es eine Statistik über Morde und Totschläge, die nach Maßgaben jeder noch so utilitaristischen Vernunft als vollkommen sinnlos und maßlos bezeichnet werden müssen, hätte die Türkei einen internationalen Spitzenplatz sicher.

Diese Dinge sind die hässlichste, aber nicht die einzige Form, in der sich ein tief in der Gesellschaft sitzender und mit einem kollektiven Größenwahn verbundener Minderwertigkeitskomplex ausdrückt, den die Landsleute bekanntermaßen oft vor aller Welt zur Schau stellen.

Einige türkische Autoren erklären dieses Unterlegenheitsgefühl historisch: erst der Niedergang des Osmanischen Reiches von einer Weltmacht zum »kranken Mann am Bosporus«, dann die niemals wirklich geglückten Versuche, die Rückständigkeit, in die man geraten war, aufzuholen. Vielleicht könnte man psychologisch herangehen und diese Neurose aus einem Mangel an Zuwendung erklären. Im Fall der türkischen Gesellschaft wäre die Ursache also das autoritäre Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Untertanen, das trotz des Übergangs vom Sultanat zur Republik im Wesen unverändert geblieben ist und das seine Entsprechung im Kleinen im autoritären Familienpatriarchen und dessen Beziehung zu seinen Kindern findet. Vielleicht spielt der Islam eine Rolle und ebenso die Art und Weise der Säkularisierung. Vielleicht haben Türken aber auch nur ein Problem mit ihrer Schwanz­länge. Auf jeden Fall haben sie einen gehörigen Knacks, den sie mittels Statussymbolen und durch Aggression zu kompensieren suchen.

Natürlich können sogar Prototypen dieser Verfassung liebenswürdige Zeitgenossen sein, die in mancher Hinsicht sympathischer sind als die vielen gefühl- und humorlosen Zombies, die gerade dieses Land bevölkern. Und natürlich hängen das Denken und das Verhalten Einzelner von weiteren Faktoren ab, von sozialen, kulturellen, politischen und geschlechtsspezifischen. Ungestraft verallgemeinern kann man ohnehin eher, wenn es um ein kollektives Verhalten geht. Und dieses fällt an keinem anderen Punkt so neurotisch aus wie dann, wenn es um das Gründungsverbrechen der türkischen Republik geht, nämlich den Völkermord an den Armeniern. Der Paragraf 301, der die »Verunglimpfung des Türkentums« unter Strafe stellt, aufgrund dessen Hrant Dink verurteilt wurde und ohne den er womöglich nicht zu einem allseits bekannten »Volksfeind« hätte gemacht werden können, ist ein Zeugnis dieses Minderwertigkeitskomplexes; ein »Was guckst du?« in Form eines Gesetzes.

Dabei sind nicht alle, die aus einem kaputten Ehrgefühl getötet haben, stolz auf ihre Taten. Manche hadern sicher mit sich selbst, mindestens ebenso viele mit dem Schicksal. Eine Szene in Fatih Akins »Gegen die Wand« verdeutlicht diese Form der Schuldabwehr: Die Protagonistin Sibel gerät auf einer nächtlichen Straße in Istanbul in Streit mit drei Männern. Sie schlägt zu und wird zusammengeschlagen. Doch immer wieder rafft sie sich auf, stößt wüste Beschimpfungen aus, wird wieder zusammengeschlagen, bis sie von einem Messerstich getroffen liegen bleibt. Dabei merkt man den Männern ihren Unwillen an, mehrmals versuchen sie wegzugehen, aber Sibel holt sie durch ihre Tiraden zurück. Also müssen sie zuschlagen, was immer die Folgen sein mögen. Irgend­wann brüllt einer vorwurfsvoll: »Mädchen, willst du uns alle ins Verderben stürzen?« Sich nicht provozieren zu lassen, kommt nicht in Frage. Und die Verantwortung liegt beim anderen. Kaum eine Ausrede dürfte häufiger sein als die, man sei provoziert worden.

Auch dieses Verhalten kennt seine Entsprechung im Politischen. Als der Schriftsteller Aziz Nesin Anfang der neunziger Jahre den Hass der damals starken militanten Islamisten auf sich zog und diese Anfeindungen im Pogrom von Sivas endeten, wurde gegen Nesin wegen »Volksverhetzung« ermittelt. Hrant Dink hat bislang kaum jemand öffentlich der »Provokation« beschuldigt. In Gesprächen hört man das aber oft: »Natürlich verurteile ich den Mord, aber Dink hat provoziert.« Der Ermordete und der Mörder sind gleichermaßen für die schreck­lichen Dinge verantwortlich – nicht aber der Staat, nicht die Justiz, nicht die Medien, nicht der allgegenwärtige Nationalismus.

Selbst wenn man mit Menschen spricht, die aufrichtig um Dink trauern, hört man zuweilen Befremdliches. Auch wenn durchaus denkbar ist, dass die Befehlskette über das Tal der Wölfe von Trabzon hinaus und sogar bis in den Staats­apparat reichte. Aber mindestens so wichtig wie diese kriminalistisch-politischen Fragen sind die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge. Doch viele Linke fragen, was Linke in aller Welt am liebsten fragen: »Cui bono?« Den USA, der EU, Griechenland, Armenien, Israel – Antworten, die sich nur in Nuancen von den Erklärungsversuchen der nationalistischen Rechten unterscheiden.

Aber lassen wir das. Hrant Dink und die Seinen, die vielen Türken, die nichts mit dem gemein haben, von dem dieser Text handelt, verdienen Respekt und Solidarität. Aber sie bedürfen keiner paternalistischen Fürsorge von Leuten, die sich an Opfern ergötzen, um dabei das eigene Selbstwertgefühl aufzupolieren. Viele von ihnen leben trotz alledem gerne in der Türkei, in Istanbul. Und viele verstehen es, gut zu leben. Zumindest, bis sich jemand findet, der ihnen in den Hinterkopf schießt.