»Die Freiheit stirbt scheibchenweise«

Gerhart Baum

Nach 24 Jahren Haft hat ein ehema­liges Mitglied der RAF, Brigitte Mohnhaupt, einen Antrag auf Entlassung zur Bewährung gestellt. Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit fordern weiterhin die harte Hand des Staats und wünschen, die Täter sollten hinter Gittern bleiben.

Gerhart Baum war von 1972 bis 1978 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium und anschließend vier Jahre lang Bundes­in­nen­minister. Er gehört zum minori­tären linksliberalen Flügel der FDP. Bereits kurz nach dem »Deutschen Herbst« wurde er heftig angegriffen, da er sich für eine vernünftige Auseinandersetzung mit der Entstehung der RAF einsetzte. Heute arbeitet er als Rechts­anwalt in Köln. Mit ihm sprach Doris Akrap.

Die Bundesanwaltschaft beantragt die Entlassung von Brigitte Mohnhaupt aus der Haft, der Bundespräsident erwägt, Chris­tian Klar zu begnadigen. In der Talkshow »Sabine Christiansen«, zu der Sie als Gast eingeladen waren, sprachen sich 91 Prozent der Zuschauer gegen die »vorzeitige Entlassung« der beiden ehemaligen Mitglieder der RAF aus. Wie steht es um die demokratische Verfasstheit der Deutschen?

Die Fragestellung bei »Christiansen« war provokativ und wurde dem tatsäch­lichen Sachverhalt nicht gerecht. In der Bevölkerung besteht eine weitgehende Unkenntnis über den Charakter der lebenslangen Strafe, die eben nicht ein ganzes Leben lang dauert, wenn der Täter nicht länger gefährlich ist. Es ist leider auch eine Tatsache, dass bei Um­fragen eine Mehrheit dagegen ist, dass Terro­risten so behandelt werden wie andere Straf­täter. Daraus leite ich nicht ab, dass diese Menschen keine Demokraten sind. Aber diese Talkshow hat gezeigt, dass es immer noch schwierig ist, die Grundsätze der Verfassung gegen Gefühle und Populismus zu vertreten. Solche Diskussionen müssen sensibler geführt werden.

Früher forderte Volkes Stimme: »auf der Flucht erschießen«, und noch heute würde sich wohl eine Mehrheit für die Todesstrafe finden. Hat sich an der öffentlichen Wahrnehmung der RAF in den vergangenen 30 Jahren überhaupt etwas geändert?

Es fehlt eine differenzierte Sicht der Gescheh­nisse. Die damalige Zeit war auch viel mehr als nur die RAF. Diese war ein radikalisiertes Zerfallsprodukt des linken Protests. Generell war es eine Aufbruch- und Reformzeit, die Deutschland verändert hat. Ich meine, im Wesentlichen zum Positiven. Die Auseinandersetzung mit dieser Zeit ist nicht beendet, zum Teil werden die alten Schlachten erneut geschlagen.

Spätestens seit 1998 hat sich mit der Auflösung der RAF jegliche Grundlage für eine panische Angst vor den bewaffneten Kämpfern selbst entsorgt. Warum schlägt die Stimmung beim Thema RAF immer wieder in Hysterie um?

Einmal sind es die Taten selbst und die Bilder. Es gibt keine Hysterie, aber die alten Kontroversen leben wieder auf zwischen denen, die Fehlentwicklungen nach­gegangen sind, und denen, die jede Selbst­kritik und jeden Reformbedarf verneint haben, mit dem Gewalt allerdings nicht gerechtfertigt werden kann.

Wie würde die Gesellschaft reagieren, wenn sich der heutige Innenminister Wolfgang Schäuble mit Herrn Klar treffen würde, so wie Sie sich 1980 mit dem ehemaligen RAF-Mitglied Horst Mahler nach seiner Entlassung getroffen haben?

Mit Herrn Mahler habe ich gesprochen, weil ich denen, die dem demokratischen Staat mit Misstrauen oder gar Verachtung gegenüberstanden, deutlich machen wollte, dass der Weg der Gewalt eine Sack­gasse ist. Es war mir damals schon völlig unverständlich, dass mich die CDU /CSU dafür heftig angegriffen hat, obwohl doch eine christlich geprägte Partei anders hätte reagieren müssen. Heute allerdings hätte so ein Gespräch keine Funk­tion mehr. Günter Gaus hat schon 2001 Herrn Klar interviewt; das ist der Öffentlichkeit zugänglich. Das Beste an dem Interview sind die Fragen von Gaus, der die komplexe Situation voll erfasst hat.

Würde es der öffentlichen Aufklärung dienen, wenn BND und Verfassungsschutz die Akten über die Vorgänge in der JVA Stammheim offen legten?

Das glaube ich nicht. In Stammheim wird sehr viel hineingeheimnist. Es wurde von Anfang an versucht, dort irgendwelche verborgenen Kräfte am Werke zu sehen. So weit ich sehe, war das nicht der Fall.

Sie geben selbstkritisch zu, in Ihrer Zeit als Innenminister an einer »Aufrüstung der Gesetzgebung« beteiligt gewesen zu sein. Hatte der Staat indirekt zu der Entwicklung der RAF beigetragen?

Wir mussten schnell auf die neue Form der Bedrohung reagieren. Das haben wir zunächst auf zweierlei Weise getan. Wir haben Polizei, Verfassungsschutz und Gerichte in die Lage versetzt, mit den Tätern umzugehen. Später, zu spät, haben wir den Zustand unserer Gesellschaft untersucht, denn als Terrorist wird man nicht geboren.

Als Innenminister habe ich Fahndungs­maßnahmen aufgehoben, die Unverdächtige betrafen. Wir haben auch Gesetze korrigiert. Allerdings besteht eine Reihe von Einschränkungen der Rechte von Verteidigern und Angeklagten fort. Seit der RAF-Zeit ist die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit gestört. Vor allem seit den Schily-Gesetzen nach dem 11. September. Wir leben in einem Prozess schleichender Ero­sion der Grund­rechte: der Lausch­an­griff, das Luftsicher­heitsgesetz, die Rasterfahndung. Diese Maßnahmen missachteten die Menschen­würde und wurden zu Recht vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Aber der Prozess geht weiter, beispielsweise mit dem heimlichen Zugriff auf Computer-Daten. Es herrscht ein Sicherheitsdenken, das, ein­mal begonnen, maßlos ist. Ein stärkeres Bewusstsein ist notwendig, um zu erkennen, dass die Freiheit scheibchenweise stirbt.

Die Bevölkerung fordert von ehema­ligen RAF-Mitgliedern Reue. Müsste der Staat heute mit gutem Beispiel vorangehen und ebenfalls Fehler bereuen? Wie etwa die Erschießung des Geschäftsmanns Ian ­McLeod, der mit der RAF nichts zu tun hatte?

Ich halte von dem plakativen Gebrauch des Begriffs Reue überhaupt nichts. Reue ist etwas sehr Persönliches, Reue heißt Schmerz zeigen. Na­türlich sind damals auch von Seiten des Staates Fehler gemacht worden, aber niemals solche, die in irgendeiner Weise die Gewalttaten gerechtfertigt haben. Es gab keinerlei Anlass, gegen den demokratischen Staat mit Gewalt Widerstand zu leisten. Aber dieser ist stark, wenn er die Kraft hat, aus Fehlern zu lernen.

Was war Ihres Erachtens die Motivation für den bewaffneten Kampf der RAF?

Darüber ist viel diskutiert worden. Wo kommen sie her? Warum ist der Frauenanteil so hoch? Wie ist ihr Leben verlaufen? Wann haben sie die erste Kontrover­se mit den Sicherheitsbehörden gehabt? Was war der entscheidende Anstoß, in den Untergrund zu gehen? Es gab sicher­lich auslösende Momente. Es gab die Notstandsgesetzgebung, den Viet­nam-Krieg, den Tod von Benno Ohne­sorg – Dinge, die diese Radikalisierungsprozesse ausgelöst haben. Das wird heute immer noch untersucht.

Wie könnte eine vernünftige politische Aufarbeitung dieser Zeit aussehen?

Ich weigere mich, nur über die RAF zu reden. Die demokratischen Parteien haben damals umfangreiche Prozesse in Gang gesetzt. Manche sagen, dass die Demokratie damals neu gegründet wurde. Wir haben die Gesetzgebung gründlich entrümpelt und die Gesellschaft modernisiert. Leider verstellt die RAF den Blick auf diese Entwicklung.

Dennoch beschäftigen Sie sich immer wieder mit dem Thema. Zuletzt haben Sie die Berliner RAF-Ausstellung unterstützt. Was sind Ihre Gründe?

Ich bin ein Freund differenzierten Denkens. Schon als Innenminister wollte ich die Sprachlosigkeiten in unserer Gesellschaft überwinden, die etwa durch den Radikalenerlass zwischen den Generationen entstanden war, weswegen dieser auf meine Initiative abgeschafft wurde. Zum anderen wollte ich der Jugend zeigen, dass unsere Gesellschaft reformierbar ist. Ich wundere mich allerdings, wie teilnahmslos sich die Gesellschaft heute gegenüber aktuellen Missständen verhält.