Die Mitte verschieben
Ein wenig krude ist sie schon, die Debatte, die seit einiger Zeit auf diesen Seiten stattfindet, und es stellt sich die Frage, warum man sich daran beteiligen soll, wenn eine selbsternannte Avantgarde der anderen den Avantgardeanspruch streitig macht. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Autorinnen und Autoren über alle Unterschiede hinweg in einer Hinsicht weitgehend einig sind: darüber, dass sich eine linksradikale Beteiligung an den Protesten gegen den G 8-Gipfel daran messen lassen müsse, ob und inwieweit es gelinge, eigene, spezielle Sichtweisen und Interessen einzubringen.
Demgegenüber hatten Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« über »das Verhältnis der Kommunisten zu den bereits konstituierten Arbeiterparteien«, also zu den existierenden Protestspektren, etwas ganz anderes gesagt. Die Kommunisten, heißt es im »Manifest«, »kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse«.
Als »Spießer« hingegen wird niemand beschimpft, es wird auch niemand des »biederen Reformismus« bezichtigt, und niemandem wird vorgeworfen, infolge seiner eigenen Verblendung selbst bei der herrschenden »Augenwischerei« mitzuwirken. Vielmehr wird eine Reihe von zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen in verschiedenen Ländern aufgezählt und die Unterstützung der Kommunisten für diese Kämpfe bekräftigt. Gleichzeitig aber betonen Marx und Engels, dass es sich dabei jeweils um widersprüchliche und von widersprüchlichen Interessen getragene Vorgänge handelt und keineswegs um klare Fronten, bei denen man sagen könnte, dass »die Guten« gegen »die Bösen« kämpfen.
Ich erzähle das nicht, um mich auf die »Klassiker« als unanfechtbare Autorität zu berufen, sondern weil es nur wenige Stellen gibt, in denen derart präzise die Aufgabe beschrieben wird, um die es tatsächlich geht: Linke Intervention in gesellschaftliche Prozesse bedeutet nämlich nicht, diejenigen näher an dich heranzuziehen, die dir ohnehin am nächsten stehen. Stattdessen zielt jede linke Intervention – neben der Sammlung linker Strömungen – darauf, das gesamte gesellschaftliche Spektrum nach links zu rücken, sozusagen die Mitte zu verschieben. Sozialdemokraten werden auch nach einer geglückten Intervention Reformisten bleiben, und bürgerliche Liberale werden keine anarchistischen Anwandlungen bekommen. Aber sie werden, wenn die Intervention erfolgreich war, ihre Ansichten von einem Standpunkt aus vertreten, der »den unmittelbar vorliegenden Zwecken und Interessen« der Kämpfenden ein wenig näher gerückt ist.
Nicht die Revolution kann das Ziel einmaliger Protestaktionen sein. So wie der G 8-Gipfel selbst Inszenierung und Spektakel ist, sind es auch die Gegenaktionen. Es geht dabei nicht um konkrete politische Forderungen, nicht um Sieg und Niederlage, es geht um die symbolische Deutung der Wirklichkeit, um die Frage, ob das neoliberale Schema der Interpretation der Welt glaubwürdig bleibt oder neue Risse erhält.
Einige der vorangegangenen Beiträge dieser Debattenreihe weisen auf interessante vorhandene Risse hin, etwa wenn Stephan Weiland die »bestehenden, derzeit kaum sichtbaren Widersprüche« erwähnt oder wenn Petra Fischer betont, dass es die »eine einheitliche Globalisierungsbewegung, das homogene politische Subjekt, nicht gibt und nie gegeben hat«. Am deutlichsten wird Juliane Nagel, wenn sie auf die vielfachen Brüche im Herrschaftssystem der WTO und des IWF verweist oder auf die mögliche Bedeutung von Protesten in Osteuropa. Lohnt sich die Diskussion vielleicht doch?
Eine Reihe von Anhaltspunkten lässt vermuten, dass es heute möglich ist, das hegemoniale Deutungsschema der Welt und der Weltwirtschaft zu beeinflussen und dadurch das gesamte politische Spektrum nach links zu verschieben. Einen solchen Anhaltspunkt gewinnt bereits, wer über die Grenzen hinausblickt. Denn im vergangenen Jahrzehnt gab es vielerorts große und bisweilen auch radikale Proteste, und zwar nicht nur in arm gemachten Ländern des Südens und Ostens, sondern auch in kapitalistischen Kernländern selbst. Die Verhältnisse werden längst nicht überall so unangezweifelt akzeptiert wie hierzulande.
Allerdings leuchtet mir die in dieser Zeitung manchmal suggerierte Annahme nicht ein, dass das Fehlen einer solchen Bewegung in der Bundesrepublik sozusagen an der genetischen Ausstattung der Deutschen liegen müsse. Ich denke vielmehr, dass bisher viele unterschiedliche Faktoren zusammengewirkt haben, um die weitgehende Ruhe in Deutschland zu erzeugen, deren Erörterung im Einzelnen jetzt nicht das Thema ist. Aber von Bedeutung ist es, dass zumindest zwei dieser Faktoren außer Kraft gesetzt werden könnten.
Bisher hat der Schwung weltweiter Proteste in Deutschland keine Wirkung gezeigt. Es gab keine Großereignisse hierzulande, auf die sich die internationale Bewegung bezogen hätte, und es gab keine relevante Stimmung, ja nicht einmal eine deutlich wahrzunehmende Strömung, die offensiv internationalistisch agiert hätte. Mit dem G 8 aber gibt es einen Anlass, der international Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Versammlung der sozialen Bewegungen beim Europäischen Sozialforum wie beim Weltsozialforum hat sich für starke Proteste beim G 8 in Heiligendamm ausgesprochen, in vielen europäischen Ländern gibt es Vorbereitungen dafür. Die »Infotour G 8« des Netzwerks »Dissent!« wurde auch außerhalb Europas sehr interessiert aufgenommen. Und in den hiesigen Vorbereitungsbündnissen gibt es den deutlichen Willen zur Internationalisierung der Proteste. Akteure wie »Dissent!«, die Euromärsche, die Interventionistische Linke oder Attac investieren tatsächlich Kraft und Phantasie. Das sagt alles noch nichts darüber aus, was am Ende in Heiligendamm tatsächlich passieren wird. Aber erstmals gibt es überhaupt Akteure, die eine solche Entwicklung wollen und real betreiben.
Zum zweiten ist die soziale Spaltung inzwischen vielen Menschen in der Bundesrepublik bewusst geworden. Auch wenn der Sozialabbau von vielen hingenommen wird wie schlechtes Wetter, auch wenn sicher die Erwartung groß ist, »der Staat« solle und könne »unseren« Wohlstand sichern, merken doch immer mehr Menschen, dass sie es mit globalen ökonomischen Umbauprozessen zu tun haben, die man auch als solche behandeln muss und bei denen die Forderung nach protektionistischen Regulierungen nicht weiterhilft.
Was oft etwas verkürzt als »neoliberale Globalisierung« beschrieben wird, also der weltweite und allumfassende Prozess der Prekarisierung aller Lebensverhältnisse zum Zweck der Aufrechterhaltung oder Steigerung der Profitraten, ist den meisten durchaus bekannt. In der Regel werden aus diesem Wissen keineswegs politische Schlussfolgerungen gezogen, und wenn, sind es oft keine emanzipatorischen. Aber es gibt damit Anknüpfungspunkte, die man dazu nutzen kann, die Aufrufe zum Protest gegen den G 8-Gipfel mit der sozialen Frage zu verbinden.
Dafür bietet der Gipfel allen Grund. Schon auf dem ersten »Weltwirtschaftsgipfel« im Jahr 1975 begannen die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrieländer damit, den Sozialabbau zur grundlegenden Maxime aller globalen Wirtschaftspolitik zu erheben. Dieser Linie sind sie treu geblieben, und die Ergebnisse ihrer Politik sind im Alltag der Menschen in aller Welt zu sehen.
Ein anderes Beispiel ist das Thema, das erstmals auf dem Gipfel von 1976 auf der Tagesordnung stand, nämlich die Verschuldung der so genannten Entwicklungsländer. Diese Erörterungen führten ab 1982 zur Kreditfinanzierung der Schulden und zur Auflagenpolitik des IWF. 1977 sprach man über »größtmögliche Zollsenkungen«, was 17 Jahre später zur Gründung der Welthandelsorganisation WTO führen sollte. 1978 stand ein »neues europäisches Währungssystem« zur Debatte, das wir als Euro und als »Maastricht-Kriterien« kennen gelernt haben.
Immer gab es Bekenntnisse zur »unerlässlichen Weiterentwicklung der Kernenergie«, und 1981, als Ronald Reagan die US-amerikanische Delegation anführte, ging es darum, die Systemkonkurrenz zu verschärfen und eine große militärische Aufrüstung voranzutreiben. Die Militärprogramme wurden mit Krediten finanziert, die mittels hoher Zinsen die Geldflüsse aus dem Süden in den Norden beschleunigten. 1982 fasste der Weltwirtschaftsgipfel all dies zusammen und sprach von einer »gemeinsamen Verantwortung« für »eine auf Konvergenz gerichtete Politik«. Der Neoliberalismus war als System formuliert, als geschlossenes Interpretationsmuster der Wirklichkeit und zugleich als Handlungsanweisung zur Gestaltung der Wirklichkeit.
Die jeweiligen Staats- und Regierungschefs haben all das nicht alleine gemacht und schon gar nicht erfunden. Aber sie beschreiben, woran sich die Kämpfe »für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen« abarbeiten müssen. Dafür können wir ihnen dankbar sein, denn es bringt einen zentralen Widerspruch auf den Punkt, zeigt sich daran doch die Vergeblichkeit aller Hoffnung auf nationale und partikulare Lösungen zur Versorgung der eigenen Klientel oder Bevölkerung. Globalisierungskritik muss heute Antworten auf die soziale Frage geben, die bedingungslos anerkennen müssen, dass Frage und Antworten nur noch in globaler Perspektive möglich sind.
Wer nicht zurück will in Verhältnisse, die nicht zufällig nicht mehr existieren, muss Konzepte entwickeln, die uns über die bestehenden Verhältnisse hinausbringen. Nicht vor der Globalisierung liegt die Zukunft, sondern hinter der kapitalistischen Globalisierung. Da stellt sich die Frage nach einer umfassenden Gesundheitsversorgung als die nach einer Weltkrankenkasse, die Frage nach sozialer Sicherheit für alle als die nach einem globalen Grundeinkommen, und aus der Frage nach der notwendigen Arbeit wird die Frage: Was wären die Dinge, die wir benötigen, um die Not zu wenden? Was wollen wir produzieren? Wie wollen wir leben und arbeiten?
Niemand kann erwarten, dass wir nach dem Gipfel in Heiligendamm der praktischen Lösung dieser Aufgaben erheblich näher gekommen sein werden. Wenn aber die Aufrufe zu den Protesten dazu führen sollten, dass mehr Menschen diese Fragen stellen und darüber diskutieren, wäre damit viel gewonnen. Ich habe nämlich keinerlei Zweifel daran, dass linke, emanzipatorische Antworten auf diese Fragen überzeugender sind als alle anderen.
Werner Rätz ist Mitarbeiter der Informationsstelle Lateinamerika Bonn und vertritt diese im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac.