Heuschrecke Staat

Berliner Wohnungsgesellschaften erhöhen die Mieten von felix baum

Was den westeuropäischen Linksradikalismus nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich von der alten Arbeiterbewegung trennte, war sein durchweg negatives Verhältnis zum Staat. Nur interessierte Ignoranten konnten seinerzeit übersehen, dass sich eines der furchtbarsten Regime der Menschheitsgeschichte, der Stalinismus, auf das Staatseigentum gründete. Auch der Nachtwächterstaat des freien Westens war längst zum allgegenwärtigen Gesellschaftsplaner mutiert, dem die Linksradikalen mit Formeln wie »integraler Etatismus« oder »Planstaat« ihre Feindschaft schworen. Das staatliche Ausbildungswesen galt als moderne Menschenzurichtung, der Wohnungsbau als Beton gewordenes Elend und der Bürokrat als ein ebenso verabscheuungswürdiges Wesen wie der Kapitalist.

Drei, vier Jahrzehnte später hat sich die Szenerie grundlegend gewandelt. Nicht die Allgegenwart des Staats fordert zum Widerspruch heraus, sondern sein vermeintlich drohender Ausverkauf. Nicht Etatismus hält man der etablierten Linken vor, sondern ihren Pakt mit dem so genannten Neoliberalismus. Ganz oben unter den Vorwürfen an den rot-roten Senat Berlins rangiert der Verkauf von 140 000 Wohnungen an eben jene internationalen Finanzinvestoren, die verwirrenderweise niemand anders als ein Führer der deutschen Sozialdemokratie als »Heuschrecken« attackierte.

Die Linke an der Macht versteht es meisterhaft, aus dieser Konstellation buchstäblich Kapital zu schlagen. Um den Einspruch von links zu dämpfen, kündigte der rot-rote Senat nach seiner Wiederwahl im Herbst 2006 an, keine weiteren Wohnungsbestände zu verkaufen. Die verbliebenen 270 000 landeseigenen Wohnungen seien erforderlich, um den Markt steuern zu können, hieß es wie in den alten Zeiten staatlicher Gesellschaftsplanung.

Aus dem subproletarischen Märkischen Viertel kamen unterdessen Berichte über Tausende von Mietern, die mit Mieterhöhungen von fast 20 Prozent zu kämpfen haben. Aber dort waren keine »Heuschrecken« am Werk, sondern eine staatliche Wohnungsgesellschaft. »Wir verhalten uns genauso, wie es ein privater Eigentümer tun würde«, bekannte das Staatsunternehmen. Der Senat erwartet von seinen hoch verschuldeten Wohnungsgesellschaften künftig eine Umsatzrendite von 25 Pro­zent, die Mieten sollen in den nächsten Jahren um zehn bis 15 Prozent angehoben werden. »Mir ist nicht klar, warum ein Land Wohnungsbaugesellschaften im Bestand halten muss, wenn sie sich genauso benehmen wie jede so genannte Heuschrecke auch«, sinnierte ein Christdemokrat, was die Frage keineswegs blöder macht.

Die Masche hat mittlerweile System. Seit Jahren verlangt der rot-rote Senat den Beschäftigten des Berliner Krankenhausunternehmens Vivantes drastische Opfer ab, weil sich nur so der Verkauf an Investoren abwenden lasse. So oder so geht es den Lohnabhängigen an den Kragen. Unter dem Druck des Weltmarktes, die Lebensansprüche der Lohnarbeiterklasse zu stutzen, handeln auch die Staatsbürokraten zunehmend wie Manager.

Gerade deshalb erfolgte der Auftakt für die populistische Kampagne gegen die »Heuschrecken« aus der Spitze der politischen Klasse. Wo der Widerstand gegen Privatisierungen nicht als Klassenkampf geführt, sondern als Rettung des staatlichen Gemeinwohls inszeniert wird, gerät er zur Ideologie, in deren Windschatten die Staatsmacht ungestört ihr Unwesen treiben kann.