Der schwarze Oskar

Horst Seehofer gilt als das »soziale Gewissen« der CSU. Die Politik, die er als Gesundheitsminister gemacht hat, sah anders aus. von philipp steglich

Das hat es in Bayern lange nicht mehr gegeben: Zum ersten Mal seit 1955 bewerben sich gleich zwei Kandidaten um den Parteivorsitz der ewigen Regierungspartei CSU. Wenn das mal keine Verwirrung stiftet! In den vergangenen Jahrzehnten war es gang und gäbe, dass ein Bewerber in den Parteigremien ausgekungelt und diese Vorentscheidung später nur noch abgenickt wurde. Ganz im Gegensatz dazu melden nun mit dem bayerischen Wirtschaftsminister Erwin Huber und dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, zwei Politiker ihren Führungsanspruch an.

Dabei gibt sich Huber als Wirtschaftsreformer, während sich Seehofer als Sozialpolitiker geriert. Aber ist der letztgenannte wirklich das »soziale Gewissen der CSU«, der »Sozialapostel«, als den ihn seine parteiinternen Gegner beschimpfen? Ist Seehofer der Lafontaine von der Isar? Immerhin durfte er die Laudatio halten, als Oskar Lafontaine im März 2005 im Haus der Bundespressekonferenz sein Buch »Politik für alle« vorstellte. Seehofer bescheinigte Lafontaine damals, einen »Tastsinn für seelische Stimmungen in der Bevölkerung« zu haben.

Von April bis November 2005 stand Seehofer dem Sozialverband VdK in Bayern vor und vertrat in dieser Funktion mit Kampagnen wie »Hände weg von den Renten!« die Interessen der Verbandsmitglieder. Es war seine originäre Aufgabe, sich in dieser Funktion für den Erhalt des Sozialstaats auszusprechen. Der Verband war froh, von einem prominenten Politiker vertreten zu werden.

Von 1992 bis 1998 jedoch war er Bundesminister für Gesundheit im Kabinett von Helmut Kohl, und in dieser Funktion schrieb er tatkräftig an der unendlichen Geschichte der Gesundheitsreformen mit. Das begann bereits im Jahr seines Amtsantritts, 1992, als er das Gesundheitsstrukturgesetz vorlegte. Es sollte, wie alle vorangegangenen und folgenden »Reformen«, die »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen aufhalten, um einen weiteren Anstieg der Beitragssätze und der Lohnzusatzkosten zu verhindern.

Seehofer führte in seiner Amtszeit die Budgetierung der Ausgaben für Krankenhausleistungen, ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arznei- und Heilmittel und der Verwaltungskosten der Krankenkassen ein. Es ist wohl immer noch das von Ärzten am meisten gehasste Instrument der Ausgabenbegrenzung. Aber auch die gesetzlich Versicherten spüren die deutliche Zurückhaltung der Ärzte, wenn diese gegen Jahresende ihr Budget bereits überschritten haben und trotzdem noch Medikamente verschreiben sollen. Die Mängel bei der gesundheitlichen Versorgung sind seit der Einführung der Budgetierung freilich dieselben geblieben. Doch gerade Arztpraxen, die viele chronisch Kranke oder ältere Menschen versorgen, müssen wegen des erhöhten Bedarfs regelmäßig ihr Budget überziehen.

Seehofer war es auch, der die Zuzahlung zu Arzneimitteln erstmals an der Packungsgröße der Medikamente bemaß und sie zugleich erhöhte. In den Jahren 1996 und 1997 folgte eine weitere Erhöhung dieser Zuzahlungen, und die Zuschüsse zu Zahnersatz und Brillen wurden gestrichen.

In der CSU scheint niemand Seehofers Image als Sozialpolitiker sonderlich ernst zu nehmen. Günter Beckstein (CSU), womöglich der nächste Ministerpräsident Bayerns, beurteilte ihn jüngst im Berliner Tagesspiegel folgendermaßen: »Horst Seehofer hat als Gesundheitsminister eine Reform gemacht, bei der ich nicht unbedingt die Blümsche Handschrift erkenne.« Diese Äußerung ist insofern bemerkenswert, als dass Norbert Blüm als Bundesminister für Arbeit und Soziales im Jahr 1989 die Zuzahlungen überhaupt erst eingeführt hat. Sein ehemaliger Staatssekretär Seehofer hat diesen Weg konsequent verfolgt und die Zuzahlungen immer weiter erhöht. Blüm und Seehofer verbindet also zweierlei: Sie betreiben beide eine unsoziale Politik und gelten gleichzeitig als sozial. Sie sind beide Kaschperlpolitiker, die angeblich für eine sozialere Politik der christlich-konservativen Parteien stehen, die sie aber in ihren Ämtern nie praktizierten.

Image und tatsächliches Handeln des Sozialpolitikers Seehofer fallen weit auseinander, und dennoch ist seine Popularität unter den bayerischen Wählern ungebrochen, wie sein Erststimmenergebnis von 66 Prozent bei der letzten Bundestagswahl, das zweitbeste bundesweit, eindrucksvoll belegt. Die Glaub­würdigkeit des Ingolstädter Familienvaters wird selbst durch die Presseberichte über seine angebliche schwangere Geliebte in Berlin nicht erschüttert. Sie regten allenfalls den Kölner Kardinal Joachim Meisner auf, der bekanntlich ein katholischer Betonkopf ist: »Wie will er denn Vorsitzender einer christlichen Partei werden? Wie weit sind wir eigentlich gekommen?« Meisners Kritik wurde jedoch umgehend von einigen Politikern der CSU zurückgewiesen, die Seehofer verteidigten.

Überhaupt war es erstaunlich, wie betont gelassen die Basis der CSU und die bayerische Öffentlichkeit die von der Bild-Zeitung lancierte Kampagne gegen Seehofer aufgenommen haben. Bei genauerem Hinsehen verwundert dies jedoch nicht. Immerhin war es der von vielen verehrte Vorsitzende der CSU, Franz-Josef Strauß, dem 1971 in New York unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen von zwei Prostituierten das Portemonnaie geklaut wurde.

»Hund’ sans scho’«, heißt es im bayrischen Dialekt, wenn dem Fehlverhalten von Politikern anerkennend und devot zugleich Respekt gezollt wird. Wenn diese sich wie selbstverständlich über ihre eigenen Ansprüche und Maßgaben hinwegsetzen, dann tun sie doch nur das, was jeder Kleinbürger auch gerne täte. Die CSU und ihre Anhängerschaft sind also nicht etwa nachsichtig und liberal geworden, wie man vorschnell glauben könnte, denn nachsichtig mit den Eskapaden ihres Führungspersonals war die Partei schon immer. Seehofers Chancen stehen also nicht schlecht.