»Zurück zu Republik, Staat und Nation«

Ein Gespräch mit dem Politologen Stéphane Rozes über die Wertedebatte im französischen Wahlkampf, linke und rechte Strategien und die Wähler in den Banlieues

Stéphane Rozes ist Direktor des Meinungsforschungsinstituts CSA und Dozent am Institut d’Études Politiques in Paris.

Frankreich hat in der letzten Zeit verschiedene soziale Auseinandersetzungen erlebt. Es gab Ausschreitungen in den Banlieues, Proteste gegen den CPE, also die Aufhebung des Kündigungsschutzes für jugendliche Berufsanfänger, und zuletzt Proteste gegen die Wohnungsnot. Wie reagieren die Kandidaten in ihren Programmen darauf?

Was sie sagen, ergibt kein kohärentes Bild. Die Kandidaten benutzen diese Ereignisse, um die gesellschaftlichen Werte neu zu bestimmen. Es überrascht, dass die Programmpunkte der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht besonders gut ausgearbeitet sind. Daher tauchen in allen politischen Spektren Fragen zu den Zahlen und zur Finanzierbarkeit auf. In diesem Präsidentschaftswahlkampf geht es mehr um das Gesamtbild, das sich aus den persönlichen Eigenschaften des Kandidaten, aus seinem Projekt und den von ihm vertretenen Werten ergibt, als um die Genauigkeit und die Details der verschiedenen Programme.

Ist es also ein Wahlkampf ohne Inhalte?

Dieser Wahlkampf muss die gesamte politische Grundlage des Landes erneuern. Das betrifft nicht nur die Inhalte, sondern auch die Frage, was es bedeutet, französisch zu sein, und wer heute eigentlich die Macht hat. Seit dem Referendum im Mai 2005, bei dem die europäische Verfassung abgelehnt wurde, wird über die Frage, was wünschenswert ist und was die Zukunft bringen soll, nicht mehr im europäischen, sondern im nationalen Kontext diskutiert. Bisher nehmen europäische und internationale Themen kaum Platz im Wahlkampf ein.

Das Land muss sich zuerst neu definieren, die Bür­ger müssen sich also versichern, dass sie dieselben Werte teilen und dass diese Werte von der Politik vertreten werden. Das ist der Grund, warum es in diesem Wahlkampf mehr um ein Projekt als um Pro­gramme geht, mehr um die Frage des Zwecks als um die der Mittel, mehr um das Wünschenswerte als um das Mögliche. Dabei spielt die Persönlichkeit des Kandidaten heute eine wichtigere Rolle als die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Inhalte.

Neu ist auch der »bürgernahe« Wahlkampf mit Fernsehsendungen wie »J’ai une question à vous poser« (»Ich habe eine Frage an Sie«), in denen sich die Kandidaten direkt den Fragen von Bürgern stellen, oder die Wahlkampfforen im Internet. Ist das eine Antwort auf das, was Sie einmal »Krise der politischen Repräsentation« nannten?

Nein. Die Franzosen glauben, dass die Krise der Repräsentation aus der Abgehobenheit der Politiker resultiert. Aber nur, weil sie das glauben, muss das noch lange nicht stimmen. Bei der Krise der politischen Repräsentation geht es heute um die Frage, wer eigentlich die Macht hat. Sind es die Wirtschaft und die Finanzwelt? Ist es die Politik? Was die Kandidaten Nicolas Sarkozy, Ségolène Royal und François Bayrou von der bürgerlichen UDF gemein haben, ist, dass sie nicht mehr über den Sachzwang aus Brüssel sprechen, über die Globalisierung oder die Finanzmärkte, sondern sich selbst in den Vordergrund stellen.

Man kann die Krise nicht überwinden, indem man auf den Schock, der durch die Globalisierung ausgelöst wird, nicht reagiert. Es ist wichtig, nachdem sich Frankreich auf natio­naler Ebene neu definiert hat, auch die europäische Politik neu zu bestimmen, über die bisher von den europäischen Bürgern selbst nicht diskutiert wurde. Im Gegenteil, die Regierungen haben das vermieden.

Die Franzosen scheinen sich dennoch sehr für den Wahlkampf zu interessieren.

Er ist sogar das wichtigste Unterhaltungsthema geworden. Die Wahlenthaltung dürfte rund zehn Prozent niedriger liegen als 2001. In den Umfragen verändern sich die Dinge von Woche zu Woche. Das zeigt, dass die Menschen den Wahlkampf sehr genau verfolgen.

Liegt es auch daran, dass er wie ein Duell zwischen Sarkozy und Royal inszeniert wird?

Nein. Die Menschen sind sogar enttäuscht von diesem Duell. Im Moment stellen wir fest, dass Bayrou stärker wird, und auch der Front National bleibt auf hohem Niveau.

Jean-Marie Le Pen versucht ja auch, Stimmen in den Banlieues zu gewinnen. Wie realistisch ist das? Gibt es ein bestimmtes Profil der Wähler in den Banlieues?

Das nicht, aber wir stellen fest, dass sich in den Banlieues mehr Menschen in die Wählerlisten eintragen als früher. Und die Bevölkerung der Banlieues ist sehr vielschichtig. Es gibt ohne Zweifel junge Leute, die sich in die Listen eintragen, um gegen Sarkozy zu stimmen. Aber es gibt in der älteren Generation auch Leute, die für Sarkozy oder Le Pen stimmen werden. In den Banlieues selbst und in den verschiedenen sozialen Schichten gab es sehr unterschiedliche Reaktionen auf die Ausschreitungen. Die Mehrheit der Franzosen wünschte sich ein Ende der Gewalt. Und die Gewalttäter waren auch auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt.

Ségolène Royal versucht ihrerseits, Stimmen von rechts und der extremen Rechten zu gewinnen. Kostet sie diese Strategie Stimmen unter den linken Wählern?

Ich glaube nicht, dass Royal und Sarkozy versuchen, Ideen der Gegenseite zu übernehmen oder die Stammwähler des jeweils anderen für sich zu gewinnen. Sie merken aber, dass sich ihre eigene Wählerschaft tiefgreifend verändert. In unserem Land findet gerade eine ideologische Neuausrichtung statt. Die liberale, libertäre Linke vom Mai 1968 ist zu einer republikanischen Linken geworden, die den Wert der Arbeit betont. Die Idee des Fortschritts ist widersprüchlich geworden. Der ökonomische und technologische Fortschritt, der durch die Globalisierung möglich wird, führt dazu, dass alle als Konsumenten an dem Prozess teilhaben wollen; er scheint aber auch einen sozialen Rückschritt in sich zu bergen.

Die Rechte ist in den vergangenen Jahrzehnten vom Katholizismus zur Idee des allein selig machenden Markts übergegangen. Doch seit zehn Jahren ist es so, dass die Franzosen die Idee des Marktes nicht mehr verstehen und es ihnen nicht mehr gelingt, eine Beziehung zwischen dem Schicksal des Einzelnen und dem des Kollektivs herzustellen.

Wie kann man diese ideologischen Verschiebungen erklären?

Die bisherigen Referenzpunkte der französischen Identität waren: die Linke, die Rechte und Europa als erweiterte politische Sphäre Frankreichs. Sie taugen aber nicht mehr. Daher kehren die Franzosen zurück zu ihren Grundlagen, und zwar in einer modernisierten Form: zur Republik, zum Staat und zur Nation. In diesen Fundamenten sehen sie einen Schutz vor einer als angelsächsisch wahrgenommenen Globalisierung.

Was sind die größten Unterschiede zwischen Sarkozy und Royal?

Royal schätzt die ökonomischen Werkzeuge des Staats. Sie vertritt kollektive Werte, sie sieht die Franzosen als eine Familie, um deren sämtliche Mitglieder man sich kümmern muss. Sarkozy hingegen unterscheidet zwischen dem, der es verdient, und dem, der es nicht verdient; zwischen dem, der arbeitet, und dem, der nur auf Hilfe wartet; zwischen dem guten Einwanderer und dem schlechten; zwischen dem guten Jugendlichen und dem schlechten. Er betont die individuellen Eigenschaften.

interview: sophie feyder