Endstation Deutschland

Gewalt, Religion, Patriarchat, und sonst? deniz yücel hat bei arabischen Berlinern nachgefragt

Wer von der Sonnenallee oder der Hermannstraße in die Schierker Straße abbiegt, kann sich plötzlich allein fühlen. Anders als in den Neuköllner Hauptstraßen, wo sich Imbissbuden, Telecafés und Wettstudios tummeln, gibt es hier nur wenige Geschäfte. Die Konditorei heißt »al-Iman« (»der Glaube«), die Schultheiß-Kneipe ein paar Häuser weiter »Zum Stammtisch«. Die Schierker Straße liegt am Körnerpark, dem ersten denkmalgeschützten Objekt im Bezirk. Kürzlich gab es eine Schießerei auf der Straße, von einem »Bandenkrieg zwischen arabischen und libanesisch-kurdischen Großfamilien« sprach später die Polizei.

So etwas ereigne sich nicht alle Tage, versichert Fadi Saad. Von seinem Büro im Nachbarschaftsheim Neukölln blickt der 27jährige Deutsch-Palästinenser auf den Körnerpark. »Ist doch hübsch hier«, sagt er. Doch der energische Mann kennt die Probleme im Viertel und spricht leidenschaftlich darüber. Und er kennt auch die andere Seite. »Ich war selbst gewalttätig, ich war abziehen und habe viel Mist gebaut.« Obwohl sich sein Vater liebevoll um ihn gekümmert habe, sei er auf die schiefe Bahn geraten. Warum? Langeweile, Selbstbehauptung, sagt Saad. Doch habe er sich auch immer für Schwächere eingesetzt und nie richtig harte Sachen gemacht. Mit 15 verbrachte er einen Tag in Arrest. Dort sei ihm klar geworden, dass er nie eingesperrt werden möchte. Außerdem habe er sich vor seinen Eltern geschämt.

Er machte seinen erweiterten Hauptabschluss und begann eine Lehre als Bürokaufmann. Heute hat er eine Teilzeitstelle bei der Nachbarschaftshilfe, eine andere im Quartiersmanagement Körnerpark. Im November war er einer der Gäste des deutsch-französischen Ministertreffens in Paris, wo er mit Angela Merkel und Jacques Chirac über Integration zu diskutierte. Er ist froh, dass öffentlich über diese Themen debattiert wird. Wichtig ist ihm nur, dass man nicht alle muslimischen Einwanderer in einen Topf werfe und mit ihnen rede statt über sie hinweg.

Dass die Gewaltdelikte von Jugendlichen tatsächlich so zunehmen, wie in den Kriminalitätsstatistiken festgestellt wird, glaubt er nicht. Gestiegen sei vielmehr die Bereitschaft, etwa der Schulen, Anzeigen zu erstatten. »Aber die Sachen, die passieren, werden brutaler.« Auch Mädchen würden »abziehen gehen«, und die Gewalttäter würden jünger. Aus seiner Schublade holt er einen Gummiknüppel mit einer eingebauten Tränengaspatrone hervor, den er einem Zehnjährigen abgenommen hat. Die meisten Jungs hätten ein Messer, ohne wirklich zu wissen, was sie damit anrichten könnten. »Diese Täter sind eigentlich Opfer, denen geholfen werden muss«, sagt Saad. Man müsse sie erziehen, nicht bestrafen. Erzogen werden müssten auch die Eltern. Viele von ihnen wüssten überhaupt nicht, wie sie sich mit ihren Kindern beschäftigen können, und würden es nicht mitkriegen, wenn diese »abziehen« gingen.

Hakan Arslan, der bei dem Kreuzberger Jugendtreff Wasserturm »Jungsarbeit« macht, geht einen Schritt weiter: Was ihre Söhne machten, sei vielen Eltern fast egal. Die Jugendlichen wiederum orientierten sich an Rappern wie Bushido und nähmen das Gangster­gehabe für bare Münze. »Viele sagen: ›Wenn sogar Gymnasiasten keinen Job finden, was soll ich dann mit einem Hauptschulabschluss?‹«

Die hohe Arbeitslosigkeit unter den hiesigen Arabern sieht Walid Chahrour als größtes Problem. Doch dass Eltern sich nicht für ihre Kinder interessieren, kann er sich nicht vorstellen. Viele Lehrer behaupteten derlei, um sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen, und die Medien würden diese Anschuldigungen bereitwillig wiederholen. Die Integrationsdebatte diene der »Mehrheitsgesellschaft« dazu, über die Abgrenzung von den Einwanderern ihre eigene Iden­tität zu konstruieren, während die sozialen Probleme ethnisiert würden. Ein Wort der Kritik an den Einwanderern ist nur schwer aus ihm herauszubekommen; ehe er einräumt, dass diese zuweilen »über­fordert« seien, wiederholt er seine Kritik an der »Mehr­heitsgesellschaft«, an der »Ausgrenzung« und »Stigma­tisierung«. Chahrour ist 47 Jahre alt, arbeitet ebenfalls als Sozialarbeiter und gehört zum Vorstand der Paläs­tinensischen Gemeine Berlin. Er ist ein freundlicher Mensch, nur wenn er über Politik spricht, wechselt er in einen harten, für Linke typischen Ton.

Anders als die Verbände der türkischen Einwanderer, erzählt Chahrour, würde man die Palästinensische Gemeinde in der Integrationsdebatte nicht ansprechen. »Uns nimmt man nur wahr, wenn es um Konflikte im Nahen Osten geht, ansonsten nimmt man an, wir seien auf der Durchreise.« Ob das auch daran liegt, dass viele Palästinenser sich selber als Durchreisende begreifen? »Wir haben ein Problem, wir haben kein Land, in das wir zurückkehren können, das können wir nicht einfach vergessen. Und von Menschen, die zehn, zwölf Jahre mit einer Duldung und ohne Arbeits­erlaubnis auf gepackten Koffern sitzen mussten, kann niemand erwarten, dass sie sofort Deutschland als ihren Lebensmittelpunkt akzeptieren. Aber die Palästinen­ser befinden sich mitten in dem Prozess, den die Türken früher begonnen haben.«

Eine Handvoll arabischer Fußballclubs gibt es in Berlin. An diesem verregneten Freitagabend haben sich kaum elf Männer zum Training des SC al-Quds auf einem Sportplatz am Rand von Schöneberg zusammengefunden: Eine Jugendabteilung existiert nicht, ähnlich sieht es bei dem Club al-Kauthar aus. Warum die Jugendlichen ausbleiben, kann Hussam el-Kassem, Mittelfeldspieler und Bruder des Vereinsvorsitzenden, nicht erklären. Die vor kurzem aufgelöste zweite Mannschaft spielte in derselben Kreisklasse wie das zweite Team des jüdischen Clubs TuS Makkabi Berlin. Ob das für den Verein besondere Spiele waren? »Früher wollte ich immer gegen die Juden spielen«, sagt el-Kassem, »nicht, um zu kämpfen, aber um ihnen zu zeigen, dass wir hier das Sagen haben.« Inzwischen sehe er das als normales Spiel.

Bei den Neuköllner Sportfreunden boxen recht viele arabische Jugendliche. Graciano und Ralf Rocchigiani sind hier groß geworden, ebenso Oktay Urkal. Fadil Luma war einst dessen Sparringspartner, heute ist der Deutsch-Albaner einer von drei Trainern. »Das Problem bei vielen arabischen Kids ist, dass sie bis 18, 19 kommen dürfen. Dann sagt der Vater: ›Du heiratest jetzt, Schluss mit Boxen.‹« Manchem kom­me auch etwas anderes dazwischen: »Ich hatte einen Jungen, der war richtig gut. Im Sommer sagt er zu mir: ›Trainer, wir sehen uns in ein paar Wochen wieder.‹ Und was macht er? Bewaffneter Raubüberfall!«

Einige Besucher seiner Gemeinde hätten ebenfalls eine kriminelle Laufbahn hinter sich, berichtet Izzeldin Hamad. »Wir versuchen, die Jugendlichen von der Straße zu holen, sagt er, »und wir leisten die soziale Arbeit, die die Bezirke leisten müssten.« Der promovierte Sozialwissenschaftler ist Vorsitzender des Moscheevereins al-Nur und stammt aus dem Sudan. Mit bis 1 200 Teilnehmern an den Frei­tagsgebeten ist al-Nur die größte arabisch­sprachige Moschee in Berlin. Die Sicherheitsbehörden bringen ihr Umfeld immer wieder mit Fundamentalismus und gar mit Terrorismus in Verbindung, dem letzten Imam wurde wegen einer Predigt die Rückreise nach Deutschland verweigert.

Auch wenn die Buslinie 246 vom U-Bahn­hof Herrmannstraße knapp 15 Minuten bis in dieses Industriegebiet braucht, ist die gefühlte Entfernung zur Stadt viel wei­ter. Eingerichtet wurde die Moschee in einer ehemaligen Industriehalle. Während drinnen die Gläubigen nach und nach zum Freitagsgebet eintreffen, patrouilliert vor der Tür ein Mannschafts­wagen. Sie seien nur wegen der Ordnungswidrigkeiten der Verkehrsteilnehmer hier, sagt ein Polizist. Ungewöhnlich wirkt es dennoch, wenn ein Mannschaftswagen ausrückt, um Strafzettel zu verteilen. Die Anwesenheit der Polizei stört Izzeldin Hamad nicht. »Wir haben nichts zu verbergen«, beteuert er. »Und wir wissen, dass das LKA und der Verfassungsschutz bei uns sitzen und hören, was bei uns gepredigt wird.«

Mit wem man auch spricht, dass die Bedeutung der Religion zugenommen habe, bestätigen alle, wobei etwa Hakan Arslan meint, dass viele sich weniger auf die Religion beriefen als auf das, was sie von ihr zu glauben wüssten. »Sie sagen ständig ›Ich schwöre auf den Koran‹, aber den Koran gelesen hat keiner von ihnen.«

Hanan Melliti* sieht in der Wiederbelebung der Religion kein grundsätzliches Problem. Die auffallend schöne Frau ist Anfang 30 und Palästinenserin aus dem Libanon. Als Kind traf sie eine Kugel der falangistischen Miliz in den Rücken, seither sitzt sie im Rollstuhl. In ihrem Schuljahrgang war sie die einzige Araberin. »Ich habe mich immer erwachsener gefühlt als die anderen«, sagt sie, daraus habe sie Selbstbewusstsein gewonnen. Und ihre Eltern hätten immer Wert darauf gelegt, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung machen.

In anderer Hinsicht hat auch Hanan Konflikte mit ihrer Familie ausgetragen. »Früher habe ich es als rückständig kritisiert, dass sich arabische Jugendliche in erster Linie nicht als Individuen, sondern als Mitglieder einer Familie verstanden haben.« Heute sei sie froh darüber, dass sie doch nicht von zuhause ausgezogen ist. »Ich habe gelernt, dass ich nicht alles bin und dass es schön ist, dass es Menschen gibt, die mich immer lieben werden, dass ich nicht einsam bin. Was nutzt einem alle Freiheit, wenn man vor Einsamkeit todunglücklich ist?« Eine »Neomuslima« ist sie allerdings nicht, sie pflegt einen westlichen Lebensstil, ihre Elter würden sich nicht einmischen und es auch nicht wissen wollen, was sie nach der Arbeit mache. »Gläubig war ich eigentlich auch schon, als ich auf der Uni Marx gelesen habe«, sagt sie, »aber heute stehe ich dazu.«

Die Mädchen, mit denen Sevil Yildirim zu tun hat, darunter viele arabische und libanesisch-kurdische, sind von einer solchen Wahl weit entfernt. Sie arbeitet im Mädchentreff »Madonna« im Neuköllner Rollbergviertel. »Natürlich finden sie eine Zwangsverheiratung oder einen Ehrenmord falsch, aber dass die Jungfräulichkeit etwas Heiliges ist, akzeptieren sie ohne weiteres«, erzählt die 23jährige Deutsch-Türkin. Und manche würden es nicht als Zwang empfinden, wenn man ihnen die Wahl zwischen zwei Cousins überließe. Die Sozialarbeiterinnen entwickelten gemeinsam mit den Mäd­chen eine Kampagne gegen Zwangsverheiratung, zuvor entwarfen sie Postkarten gegen Ehrenmorde. Einer der beiden Jungs, die darauf mit zwei Mädchen posiert hatten, wurde von Jungs aus dem Viertel übel zusammengeschlagen.

»Wir müssen das Vertrauen der Eltern gewin­nen, damit sie ihre Töchter zu uns lassen«, sagt Sevil Yildirim. »Zu uns kommen Mädchen, die in Berlin geboren sind, aber noch nie das Brandenburger Tor gesehen haben.«

Gabriela Heinemann, die Leiterin des »Madonna«, arbeitet seit 25 Jahren hier. Früher, sagt sie, seien die Eltern offener gewesen und hätten gehofft, ihre Kinder könnten über die Bildung einen sozialen Aufstieg erleben. Viele hätten diese Hoffnung inzwischen aufgegeben. »Wir erreichen nur noch die modernen Eltern. Aber selbst sie haben ein Problem damit, wenn wir Jungs zu Festen einladen.« Mehrfach sei es vorgekommen, dass aufgeregte Väter deshalb im »Madonna« randaliert hätten. Aber inzwischen habe man die Scheu davor abgelegt, notfalls mit der Polizei zusammenzuarbeiten.

Während die Frauen von »Madonna« für die Integration der Mädchen arbeiten, hat der wohl prominenteste arabische Einwanderer, der Göttinger Professor Bassam Tibi, genug von diesem Land. Ende vorigen Jahres erklärte er, dass er nach 44 Jahren »scheinbar verlorenen Jahren« in die USA gehen werde. Er sei es leid, ständig als »Syrer mit deutschem Pass« wahrgenommen zu werden. Der deutschsprachige Schriftsteller Rafik Schami, der ebenfalls aus Syrien stammt, sieht die Dinge gelassener: »Die Deutschen sind viel besser als ihr Ruf. Jede Mehrheit ist zu bequem gegenüber den Minderheiten. Aber ich glaube fest daran, dass auch die Minderheit historisch immer dazu verpflichtet war, der Mehrheit Vorschläge zu machen und nicht nur zu jammern.«

* Name von der Redaktion geändert